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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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richtiger gewesen. Ich verstricke mich in Sichtweisen, denn die Wahrheit gibt es vielleicht gar nicht. Es ist alles eine Frage des Betrachters.
    »Ich meine, offiziell bin ich da, um neue Kirchenfenster zu entwerfen«, fügte sie hinzu. »Sie wissen nicht, wer ich bin.«
    »Gott.«
    »Ja … das ist der Einzige, den ich im Dorf bisher nicht getroffen habe«, sagte sie mit einem Grinsen.
    »Und … den Jungen von damals? Lenz … Fuhrmann? Den hast du getroffen?«
    Siri nickte und sah weg. »Man könnte so sagen.«
    Er wollte mehr fragen, sie sah es, er wollte so vieles fragen, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte, aber sie ließ ihn nicht.
    »Wenn ich es weiß«, sagte sie, »wenn ich alles weiß, sage ich es dir.«
    »Aber du kannst nicht … das ist zu gefährlich …«
    »Und ich bin erwachsen. Lass mich einmal erwachsen sein. Ich bin nicht mehr das Kind, das du vor dem Ertrinken bewahren musst. Es war übrigens immer ein ziemlich lächerlicher Gedanke, ein Kind in Angola vor dem Ertrinken schützen zu wollen. Weißt du … manchmal frage ich mich, wie alles wäre, wenn Maja noch da wäre. Stimmt es, dass sie immer eine Sonnenbrille trug? Ich erinnere mich so schlecht.«
    »Doch. Es stimmt. Sie hatte dauernd diese Kopfschmerzen …«
    »Sag mir eines.« Sie sah ihm in die Augen, die die gleichen waren wie ihre und doch alles anders sahen. »Sag mir: Siehst du sie?«
    »Bitte?«
    »Siehst du meine Mutter? Maja?«
    »Ich fürchte, ich verstehe nicht …«
    »Sprichst du mit ihr?«
    »Sie … ist tot.« Er schüttelte den Kopf, und der Ausdruck in seinen Augen verwandelte sich in Besorgnis. Als er weitersprach, sprach er langsam und überdeutlich, wie zu einem kleinen Kind. »Deine Mutter, Siri … sie ist seit dem Winter 1985 nicht mehr bei uns. Du …« Er klang jetzt verunsichert. »Du weißt das. Sie hat eine Überdosis ihrer Kopfwehtabletten geschluckt.«
    Siri lächelte ihn an. So also, dachte sie, fühlt es sich an, wenn man für merkwürdig gehalten wurde, für geistig … nicht ganz normal. Sie ließ ihn einen Moment lang in dem Glauben, sie hätte den Tod ihrer Mutter vergessen. Sie hatte ihn nicht vergessen. Sie wusste genau, wann sie gestorben war, es war am zweiten Mai gewesen, an dem Tag, an dem ein ganzes Leben zuvor ein Kind zur Welt gekommen war und den Namen Iris erhalten hatte.
    »Ich weiß«, sagte sie schließlich. »Die Tabletten … es war meinetwegen, das weiß ich auch. Weil ich nicht das war, was sie sich gewünscht hat. Nach dem Unfall, der kein Unfall war, hat sie sich nie wieder erholt. Ich hätte ihr helfen sollen, sich zu erholen, aber ich konnte es nicht.«
    »Nonsens«, sagte der alte Herr schroff, und sein Tonfall sagte das Gegenteil. »Sie war schon immer … zerbrechlicher als andere Menschen. In sich zurückgezogen.«
    »Sie war depressiv«, sagte Siri und machte das Wort in ihrem Mund zu einer Waffe.
    Dann sah sie auf die Uhr und stand auf.
    »Ich muss los. Ich habe noch eine Verabredung.«
    »Mit wem? Nein, verzeih, es geht mich nichts an, es ist nur … du hast selten Verabredungen … es ist, als wärst du dabei, jemand anderer zu werden. Ich bin verwirrt.«
    Sie lächelte ihn nur an. »Ich melde mich, wenn ich die Wahrheit herausgefunden habe. Tu nichts in der Zwischenzeit, ja? Lass die alte Pistole da, wo sie ist. Besser noch: Wirf sie weg.«
    Sie ging um den Tisch herum zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie ihn verließ. Auch das war ungewöhnlich. Sie war nie jemand gewesen, der Leute küsste, nicht einmal Verwandte, nicht einmal als Kind. Es fühlte sich an wie ein Abschiedskuss – und wie ein Abschied auf lange Zeit. Sie hatte sich ihr Leben lang nach Anerkennung von ihm gesehnt, so sehr gesehnt, dass es geschmerzt hatte. Jetzt fand sie den Schmerz nicht mehr.
    »Du hast mir nicht geantwortet«, sagte sie. »Siehst du Maja?«
    »Was soll diese Frage, Siri?«
    »Siehst du Iris? Die Iris von damals?«
    »Bitte … erkläre mir …«
    » Wir sehen sie«, sagte sie. »Sie trägt noch immer das blaue Seidenkleid, das sie nie mochte und in dem sie begraben wurde. Es kommt ihr in die Quere, wenn sie auf die Bäume klettert. Manchmal macht mich das traurig.«
    Sie hörte die Frage noch hinter sich, aber sie drehte sich nicht mehr um auf ihrem Weg zwischen den Tischen anderer Teetrinker hindurch, auf ihrem Weg, auf dem sie sich nicht mehr beobachtet vorkam, weil sie es jetzt war, die beobachtete.
    »Wer«, fragte der alte Herr,

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