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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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fragte Annelie schließlich und zupfte ihre Blusenärmel zurecht. Die Bluse war grün wie der Frühling, die Ärmel wie Knospen. Annelie war, auf gewisse Weise, ihr Garten.
    »Ja«, sagte Lenz.
    »Hast du sie mitgebracht?«
    Er sah sich um. »Nein.«
    »Schade. Ich habe Kekse gebacken.«
    »Annelie«, sagte er. »Dass Iris nicht da ist … hat einen Grund. Sie ist schon zum zweiten Mal verschwunden, weil … Annelie, da ist eine fremde Frau auf dem Friedhof. Wir nennen sie die Fensterfrau. Sie macht die Kirchenfenster. Und sie bleibt vielleicht den ganzen Sommer über. Das ist mein Ort, Annelie. Diese Frau … sie sieht einem in die Augen und sucht etwas darin. Meine Augen gehen sie nichts an.«
    Annelie musterte ihn aufmerksam. »Was findet sie denn in deinen Augen?«
    Er sah weg. »Nichts. Und Kaminski ist vom Dach gefallen. Bei irgendeiner Reparatur.«
    »Ach, so ein Pech!«, rief Annelie. »Der arme Junge. Er hat sich doch nichts gebrochen?«
    Lenz sah ihr zufriedenes Grinsen.
    »Er hat. Das Bein. Er ist auf Krücken unterwegs.«
    »Sieh mal einer an«, sagte Annelie. »Dann wird er wohl eine Weile zu Hause bleiben müssen, anstatt mit seinen Freunden durch die Gegend zu ziehen, die so bedauernswert wenig Haare auf dem Kopf haben. Holen wir die Kekse.«
    Sie stand auf, und wie immer erstaunte es ihn, mit wie wenig Mühe sie sich bewegte. Sie war vierzig Jahre älter als er, aber ihr Körper weigerte sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Nur die Venen an ihren Händen traten Jahr für Jahr deutlicher hervor, als würde die Zeit ihre Handschrift in blauer Tinte auf Annelies Haut hinterlassen.
    Lenz folgte ihr in die Küche und nahm den Teller, der dort stand, einen blauen Teller voller goldbrauner Frühjahrskekse. Einen Moment lang blieb er am Fenster stehen. Und er dachte daran, wie oft er hier gestanden hatte, als kleiner Junge. Er hatte immer darauf gewartet, dass jemand den Weg heraufkam. Nein. Nicht einfach irgendjemand.
    Die verschwundenen Personen.
    Sie waren nicht im eigentlichen Sinne verschwunden, natürlich, sie waren verloren gegangen oder ihm verloren gegangen. Doch alles, was jemals den Weg entlangkam, waren Kaninchen.
    »Es gibt also nicht nur Personen, die unerwartet verschwinden«, sagte er nachdenklich, »sondern auch Personen, die unerwartet auftauchen. Gibt es einen Zusammenhang, Annelie? Zwischen den verschwundenen und den auftauchenden Personen?«
    »Es gibt auf der Welt selten Zusammenhänge«, sagte Annelie nachdenklich. »Aber wenn man sich anstrengt, kann man immer welche finden.«
    »Die Fensterfrau … ihre Augen sind blau. Es ist dasselbe Blau wie bei Iris. Was denkst du, Annelie? Über die ganze Sache?«
    »Ich denke«, sagte Annelie, »dass unser Friedhofskind die Fensterfrau sehr genau studiert hat.«
    »Sie ist neu hier«, erwiderte er schroff. »Es ist nur deshalb.«
    »Richtig.« Annelie nickte. »Sie ist neu. Sie hat nur Werkzeuge mitgebracht, keine Vorurteile. Sie weiß nicht, was die Leute über dich sagen.«
    Lenz stellte den Keksteller aufs Fensterbrett, etwas zu abrupt. »Ich habe keine Ahnung, was die Leute sagen. Und ich denke, ich muss jetzt los. Auf dem Friedhof wartet eine Menge Arbeit auf mich.«
    »Eine Menge Arbeit«, hörte er Annelie hinter sich murmeln. »Und eine Frau …«
    †   †   †
    Als Siri den Totengräber zum dritten Mal sah, saß er auf dem Glockenstuhl, zwei Nägel im Mund, und war dabei, dort oben etwas zu reparieren.
    Beim ersten Mal hatte er sich auf einer Mauer befunden, beim zweiten Mal in einem Apfelbaum – er war, dachte sie, wie eine Katze, er bevorzugte die Höhe. Jedenfalls, wenn er ihr begegnete.
    Sie versuchte, nicht an die Nacht zu denken, in der er in ihrem Zimmer gestanden hatte, ohne dazustehen.
    »Guten Morgen«, sagte sie.
    Er nickte wortlos, deutete auf die Nägel in seinem Mund und arbeitete weiter.
    Siri ging um die Kirche herum, wo es mehr Licht gab, und breitete ihre Zeichenmappe auf der einzigen Bank aus, um sich davorzuknien. Der Boden war noch feucht, der Winter saß dem Land in den Knochen. Es dauerte keine halbe Stunde, bis ihre Jeans an den Knien durchgeweicht war, aber sie brauchte Licht. In der Ferienwohnung gab es nicht genug davon, die Farben erstickten zwischen ausgelegter Einlegeware und umgebauten Anbauwänden.
    Der Wind versuchte immer wieder, Siri das Zeichenblatt zu entreißen. Sie hörte sich fluchen.
    Und dann, plötzlich, streckte sich eine Hand ins Bild, eine große, grobe Hand, die vier Steine auf

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