Friedhofskind (German Edition)
schroff.
»Und sie hat angefangen, die Leute zu fragen. Wegen der Fenster. Heute Morgen. Frau Henning war hier und die alte Kaminski und noch ein paar Frauen. Sie haben alle die Schultern gezuckt und angefangen, über Saatgut zu reden und über Aljoschas Kaninchen, die mal wieder die Triebe abfressen. Lenz … wie lange ist es jetzt her, dass die Kirchenfenster kaputtgegangen sind?«
Er rechnete. »Zweiunddreißig Jahre? Es war an dem Tag, an dem der Wind die ersten Apfelblüten gepflückt hat.«
Sie nickte. Dann sprang sie auf, rannte über die Wiese, die er mähen musste, und kletterte auf den alten Apfelbaum. »Komm! Komm!«
Er kletterte ihr nach, natürlich, und dann saßen sie dort und ließen den blauen Himmel über sich vorüberziehen, und für Momente war alles so, wie es immer gewesen war.
»Der junge Kaminski ist vom Dach gefallen, übrigens«, sagte Lenz schließlich.
»Geschieht ihm recht«, sagte Iris. »Arschloch.«
»Dein Vater hat dir verboten, solche Worte in den Mund zu nehmen.«
»Arschloch, Arschloch, Arschloch«, sagte Iris zufrieden. »Mein Vater ist weit weg.«
Da wurde der Himmel weniger blau. »Er war hier«, sagte Lenz leise. »Im Winter. Er hat mich nicht gesehen, aber er war hier.«
»Ach was«, sagte Iris, »nach zweiunddreißig Jahren! Na, wenn er wiederkommt, grüß ihn von mir. Kannst ihm sagen, es tut mir leid, dass keiner mehr für ihn Klavier spielt und tanzt. Aber ich sitze eben lieber in den Bäumen und fange Kaninchen und mache meine Kleider schmutzig.«
Lenz wollte etwas sagen; etwas darüber, dass er niemanden grüßen würde.
Aber in diesem Moment quietschte das Friedhofstor, und die Fensterfrau trug ihren geblümten Regenmantel herein.
»Gestern Morgen gab es einen Friedhof, der mir gehörte«, murmelte er. »Friedhofskind. Wozu braucht die Kirche bunte Glasfenster? Kein Mensch geht in diese Kirche. Außer vielleicht Annelie.«
Er sah sich nach Iris um, aber sie hatte es wieder einmal vorgezogen, sich aus dem Staub zu machen. Es lag an der Fensterfrau. Verdammt, die Fensterfrau war dabei, sein Frühjahr und seinen Sommer mit Iris zu zerstören: ihre kostbare gemeinsame Zeit.
Er kletterte vom Baum, schürfte sich die Hand dabei auf und begrüßte das Blut, das aus der Wunde lief. Es bestätigte ihn in seinem Gefühl, dass alles schlecht war. Obwohl es gerade in diesen Maitagen hätte gut sein sollen.
Annelie. Er würde zu Annelie gehen. Wenn alles schlecht war, ging er immer zu Annelie.
Er ging durch den Garten. Er war immer durch den Garten gegangen, schon als kleiner Junge.
Im Gras saßen drei Kaninchen und starrten ihn an, reglos.
Annelie selbst saß auf der Veranda.
Die Veranda war eigentlich ein Wintergarten, an allen Seiten von Glas umgeben, doch Annelie und Lenz hatten damals entschieden, dass sie das Wort »Winter« nicht mochten, nicht einmal im Zusammenhang mit dem Wort »Garten«. Es hatte auch etwas Exotisches, Veranda zu sagen, es klang nach Ferne. Nach Afrika vielleicht. Annelie besaß eine Postkarte aus Angola, die er als Kind oft angesehen hatte: eine Postkarte, die eine Veranda mit einem Schaukelstuhl zeigte. Sie hatten sich vorgestellt, wie sie dorthin reisten und Abenteuer mit den Löwen erlebten, die sie eventuell zähmen und überreden könnten, in Schaukelstühlen zu sitzen. Annelie war immer die einzige Person gewesen, mit der er lachen konnte.
An diesem Tag saß Annelie in einem Schaukelstuhl ohne Löwen.
In ihrem weißen Haar hatten sich die Sonnenstrahlen verfangen wie Lametta, und sie las ein Buch.
Sie war, dachte Lenz, vermutlich die einzige Person im Dorf, die Bücher las. Er sah ihr eine Weile durch das Verandaglas beim Lesen zu – eine Frau in einem Aquarium.
Schließlich hob er die Faust und klopfte an, zu laut. Er wusste nicht, warum seine Hände mit den jungen Trieben auf dem Friedhof so behutsam waren und nicht leiser an ein Fenster klopfen konnten. Nichts an ihm passte zusammen, das jedenfalls wusste er, er war zu stark und zu schwach, zu wenig belesen und doch stets zu sehr in Gedanken, zu groß und zu breitschultrig und zu sehr Kind; das Friedhofskind. Eine Menge Leute hielten ihn für zurückgeblieben. Lenz hatte sich nie bemüht, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
»Der Lenz ist da«, sagte Annelie, als er durch die Verandatür trat. »Apfelblütenzeit. Setz dich.«
Eine Weile schwiegen sie durch das Glas in den Garten hinaus, wo in der Hecke die Frühjahrsvögel ihre Nester bauten.
»Iris ist wieder da?«,
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