Friedhofskind (German Edition)
»Kaminski. Sie sind neu hier.«
Sie nickte.
»Sie sehen eingeschüchtert aus.«
»Sie sehen aus, als hätten Sie ein gebrochenes Bein«, sagte Siri.
»Ein Unfall. Sie machen die Kirchenfenster?«
»Ja. Erinnern Sie sich an die Bilder darauf?«
Er lachte. »Vor meiner Zeit. Ich kenn die Kirche nur so, wie sie ist. Aber wird sicher schön. Machen Sie alles selbst? Den Einbau auch?«
»Ja.«
»Alle Achtung. Sagen Sie … was war das für eine Sache mit Ihnen und Fuhrmann?«
»Sache?«, fragte Siri.
»Er hat Sie festgehalten. Sagen Sie ihm, wenn er sich mit Ihnen anlegen will, kann er sich gleich mit mir anlegen. Und zwar von Angesicht zu Angesicht. Keine unerklärlichen Unfälle.«
»Ich werde es ihm bei Gelegenheit ausrichten«, sagte Siri. »Bei einem unserer freundlichen Kaffeekränzchen. Heißt das …«, sie bemühte sich, nicht zu grinsen, »… ich stehe unter Ihrem persönlichen Schutz?«
»Wenn Sie möchten.« Kaminski zuckte die Schultern. »Ich bin nur ein anständiger Mensch, der ein bisschen aufpasst hier. Jemand sollte aufpassen. Und ich bin schlecht auf den jungen Fuhrmann zu sprechen.«
Und Sie haben keine Angst, dass Sie von noch mehr Dächern fallen? , wollte Siri fragen. Sie ließ es.
»Gibt es denn einen alten Fuhrmann?«, fragte sie stattdessen. »Oder ist der so tot wie der alte Kaminski?«
»Ansichtssache.« Kaminski kramte eine Zigarettenpackung hervor. Er hielt sie ihr hin, aber sie schüttelte den Kopf und sah stattdessen zu, wie er die Zigarette in den Mund steckte und sie umständlich anzündete, kein einfaches Unterfangen, wenn man gleichzeitig eine Krücke festhielt.
»Der alte Fuhrmann war früher hier der Totengräber«, sagte er. »Warum fragen Sie den nicht nach den Fenstern? Dahinten, den kleinen Weg zwischen den Hecken rein. Das niedrige Haus am Ende. Marodes Schilfdach, verwilderter Garten. Da wohnen sie.«
»Sie?«
»Der alte und der junge Fuhrmann. Leben seit vierzig Jahren unter einem Dach. Aber ob man dazu Leben sagen kann, na, das liegt, wie sagt man? Im Auge des Betrachters.«
Siri ging nicht zu dem Haus mit dem maroden Dach. Sie ging auch nicht zu dem blauen Haus auf dem Hügel, zu dem Lenz Fuhrmann sie geschickt hatte. Sie ging zu ihrem Golf in Frau Hartwigs Auffahrt. Darunter schien ein Kaninchen zu sitzen. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, legte den Kopf einen Moment aufs Lenkrad und atmete den Uraltkunststoffgeruch des Autos ein. Schließlich steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Sie würde irgendwohin fahren, über die Insel – irgendwohin ans Meer. Irgendwohin, wo das Wasser nicht jenseits von Schilf und einzelnen Stegen lag, sondern blau und frei den Horizont bestimmte.
Sie war erst drei Tage hier, und das Dorf begann bereits, sie zu ersticken.
»Ich weiß noch nichts«, flüsterte sie. »Ich weiß nur, dass alles und alle miteinander ver… verwoben sind? Ineinander verkrengelt, eher.« Sie griff unter den Beifahrersitz. Dort lagen noch siebenundzwanzig Tafeln schwarzer Schokolade.
Sie hatte sich vorgenommen, das Dorf nicht vor dem Ende ihres Auftrags zu verlassen. Es gab einen fahrenden Gemischtwarenladen, Frau Hartwig hatte ihr das berichtet, und bis auf schwarze Schokolade würde sie dort alles bekommen, was sie brauchte. Sie hatte alle Verbindungen zur Außenwelt abgebrochen, sie hatte nicht mal ihr Handy mitgenommen, und sie hätte auch das rote Telefon nicht benutzt, bestimmt nicht, wenn nicht der Zettel unter dem Scheibenwischer geklemmt hätte.
G ehen Sie nach Hause.
Nein.
Sie musste dieses Dorf und seine Menschen verstehen, um die richtigen Fenster mit den richtigen Farben und den richtigen Bildern zu machen, ihre Fenster würden nicht nur Fenster sein, sie wären ein Spiegel der Seele dieses Ortes. Sie war bekannt für ihre Seelenspiegelfenster. Die Aufträge, die sie bekam, für Türen in Privathäusern, für Kapellen, für Restaurationen, waren gut bezahlt. Siri Pechton war teuer, sie war vielleicht die teuerste Ein-Mann-Glasfenstermanufaktur des Landes.
Nur jemand wie Siri konnte Licht in die Schatten dieses Ortes bringen – konnte, vielleicht, die Touristen zurücklocken.
Der Verein, der sich mit den alten Kirchen der Gegend befasste, hätte sie niemals bezahlen können. Sie hatte den Auftrag angenommen, das hatte sie ihnen gesagt, um der Hektik der Großstädte eine Weile zu entkommen. Und weil ein solcher Auftrag eine Herausforderung war.
Aber Lenz Fuhrmann hatte recht, sie hatte es sich einfacher
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