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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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die Ecken des Papiers legte. Die Hand war verschmiert mit einer dunklen Flüssigkeit.
    »Was«, fragte Lenz Fuhrmann über ihr, »zeichnen Sie da?«
    Es gefiel ihr nicht, vor ihm zu knien und zu ihm aufzusehen, aber sie merkte, dass ihre Beine eingeschlafen waren, und sie musste sich an der Bank abstützen, um aufzustehen.
    »Ich … denke über die grobe Aufteilung von Licht und Schatten nach.«
    Auf dem Blatt waren die Umrisse der beiden Westfenster zu sehen und darin ein Chaos aus Linien.
    »Ich erkenne nichts«, sagte er.
    »Ich auch nicht«, murmelte sie. »Aber darum geht es nicht. Es geht um die Verteilung der Farben.«
    »Da sind keine Farben«, sagte er.
    Sie seufzte. » Noch nicht. Lassen Sie mich einfach machen. Sie kümmern sich um Ihre Gräber und Ihre Pflanzen, und ich kümmere mich um meine Fenster.«
    Er schüttelte den Kopf und wischte seine schmierigen Hände an der grauen Hose ab. »Ich will Ihnen was sagen – Sie haben keine Ahnung, was Sie da zeichnen. Sie haben keine Ahnung, was auf den Fenstern zu sehen war. Und die Leute, die Sie fragen, antworten nicht. Die Leute interessieren sich für Saatkartoffeln. Für Angebote im Bau-Discount. Für Holzkohlepreise. Nicht für Kirchenfenster. Keiner weiß, was das für Bilder waren. Habe ich recht?«
    Sie sah etwas in seinen grauen Augen blitzen, das sie verwunderte.
    »Und Sie?«, fragte sie. »Gehören Sie nicht zu denen? Wissen Sie mehr als die Leute?«
    »Ich gehöre zu gar niemandem«, sagte er. »Und ich weiß gar nichts. Bis auf eines: So kommen Sie nicht weiter. Hören Sie zu, denn ich sage das jetzt nur einmal. Ich erinnere mich. Ich war acht Jahre alt, als die Fenster gesprungen sind. Ich erinnere mich nur an eines von ihnen. Das erste. Das rechte Westfenster.«
    »Das erste? Gab es denn eine Reihenfolge? Ein erstes und ein letztes?«
    »Ich habe gesagt, Sie sollen zuhören«, sagte er schroff. »Das erste Fenster, das war die Geburt Christi. Der Himmel war blau, ein sehr dunkles Blau. Und davor etwas wie … Sternenschauer. Weiß. Vielleicht ein weit entfernter Chor aus Engeln: helle Flecken in der Dunkelheit. Maria hielt das Kind fest, unten auf dem Bild, mitten in den Sternenschauern, so als ob sie es mit ihrem Körper schützen müsste vor den fallenden Sternen. Joseph ging ziemlich weit hinten, er war eigentlich kaum da … aber da waren andere. Marias Kleid war blau wie die Nacht, man sah sie nur, weil ihr Haar so hell strahlte; und natürlich der Heiligenschein. Vielleicht war es auch die Flucht nach Ägypten, vielleicht waren sie schon in Ägypten, denn die Leute sahen misstrauisch aus, so wie man misstrauisch ist gegenüber Fremden.«
    Siri merkte, dass sie die Augen geschlossen hatte. »Ich sehe es«, sagte sie. »Dunkelblau und weiße Flecken. Es war auf einem der Fotos. Ich wusste nur nicht, was es bedeutete.« Sie öffnete die Augen und sah ihn an. »Warum helfen Sie mir?«
    Da beugte er sich zu ihr hinunter, und auf einmal war sein Gesicht zu nah. Er kniff die Steinaugen zusammen. »Nicht aus Freundlichkeit«, sagte er leise. »Ich will, dass Sie mit diesen Fenstern fertig werden und verschwinden. Verstanden?« Auf einmal packte er sie grob am Arm. »Ich mag es nicht, wie Sie mich ansehen«, flüsterte er. »Sie sehen mich an wie … wie eine Frage. Machen Sie die verdammten Fenster und hauen Sie ab. Die Toten sind begraben und tot.«
    »Ja«, wisperte sie.
    Er ließ sie los, und sie taumelte, denn sein Loslassen war mehr ein Zurückstoßen.
    »Gehen Sie zu Annelie Ammerland. Das blaue Haus auf dem Hügel. Fragen Sie Annelie nach den Fenstern. Aber regen Sie sie nicht auf. Ihr Herz ist nicht mehr das gesündeste. Fragen Sie nur, was nötig ist. Ich werde in der Nähe sein.«
    Damit richtete er sich wieder zu seiner vollen Größe auf und studierte einen Moment lang seine verschmierten Hände.
    »Maschinenöl«, sagte er. »Der Mechanismus der Glocke … ich habe die Zahnräder geölt. Nur falls Sie denken, es wäre Blut oder sonst was Gruseliges.«
    Dann ging er mit langen, schweren Schritten davon.
    Siri sank auf die Bank und atmete ein paar Mal tief durch.
    »Arschloch«, sagte sie leise und biss sich auf die Lippen, und dann, zu sich selbst: »Herzlichen Glückwunsch. Du hast einen unmöglichen Auftrag in einem Dorf voller Saatkartoffelsammler, und der einzig kluge Mensch ist vielleicht wahnsinnig und hasst dich.«
    Und etwas in ihr wollte in den Golf steigen, den Schokoladenvorrat aus dem Handschuhfach holen … nach

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