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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Hause fahren. Auf ihren Ärmeln leuchteten die Regenmantelblumen, unverwelkt und wasserdicht.
    Sie setzte sich gerader hin. Nein. Sie würde das hier durchziehen.
    Auf der anderen Seite des Friedhofs standen drei alterslos-alte Saatkartoffelsammlerinnen und sahen zu Siri herüber. Sie hatte sie nach den Fenstern gefragt, am Vortag, und keine brauchbare Antwort bekommen. Die Frauen hatten Dauerwellen und trugen Kittelschürzen und Gießkannen. Jetzt stellte eine von ihnen ihre Gießkanne ab und kam herüber, schwankend, hüftmüde, aber energisch. Frau Henning, richtig, so hieß sie.
    »Armes Mädchen«, sagte sie, als sie bei Siri war. »Armes Mädchen, was haben Sie zu ihm gesagt?« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Dauerwelle wippte sachte wie Sahnepudding. »Sie sind die Erste, gegen die er … ich sage mal … handgreiflich geworden ist. Die Erste! Sonst ist es sanft wie ein Lamm, unser Friedhofskind.«
    Sie setzte sich neben Siri auf die Bank und beugte sich näher zu ihr, während die anderen beiden Frauen langsam herübergedriftet kamen, die Blicke voll begieriger Neugier.
    »Sanft ist er«, wiederholte Frau Henning. »Aber das heißt natürlich nur, dass er selbst niemandem etwas tut. Aber wenn ihm was nicht passt, dann … sehen Sie den jungen Mann beim Tor?«
    Sie sah ihn. Er lehnte außen am Gittertor, rauchte und tat so, als würde er nicht zu ihr herüberstarren. Das Frühlingslicht spiegelte sich auf seinem sorgfältig kahl rasierten Schädel, spielte auf den weißen Streifen seiner Joggingjacke. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig.
    War auch er ihretwegen hier? Kamen sie alle, um sich die fremde Frau anzusehen wie ein Tier im Zoo? Der dort lehnte nicht am Tor, wie sie zuerst gedacht hatte. Er lehnte auf einer Krücke. Sein rechtes Bein war eingegipst. Irgendwo hinter ihm hoppelte ein Kaninchen vorüber.
    »Ein guter Junge«, fuhr Frau Henning fort, »nur manchmal schlägt er über die Stränge. Ist neulich völlig blau auf dem Friedhof aufgetaucht … hat ein paar Sachen zu unserem Friedhofskind gesagt, die er besser nicht gesagt hätte. Und jetzt gucken Sie ihn sich an.«
    »Haben Sie sich … geprügelt?«
    »Geprügelt? Nein. Er ist vom Dach gefallen.«
    »Und man fragt sich doch«, sagte eine zweite Saatkartoffelfrau, »was er da oben getan hat. Is ja kein Geheimnis, dass er nicht schwindelfrei ist, der junge Kaminski.«
    »Der alte war schwindelfrei wie ein Vogel«, sagte die dritte Frau. »Hat in Dächern gemacht, der Junge sollte die Firma übernehmen, war ’n großer Streitpunkt zwischen denen beiden. Jetzt arbeitet er in der Autowerkstatt bei Werter, da muss er nirgends hochklettern, höchstens wo drunterkriechen. Passt auch besser zu ihm.« Sie lachte keckernd. »Angeblich war er auf dem Dach, um irgendwas zu reparieren. Aber jeder hier weiß, wie’s wirklich war. Jemand hat ihn gelockt. Jemand hat dafür gesorgt, dass er aufs Dach steigt, damit er runterfällt. Der Alte, der ist tot und begraben. Das Friedhofskind hat Rosen auf sein Grab gepflanzt, aber der junge Kaminski hat ihm nichts gegeben nach der Beerdigung, gar nichts. Da hab ich schon gesagt, das geht nicht gut … wen wird er wohl auf dem Dach gesehen haben, der junge Kaminski? Den Alten, ich sag es Ihnen, der Alte ist aus seinem Grab gekrochen. Und wer – wer hat ihn gerufen?«
    »Sie meinen …«, sagte Siri.
    »Natürlich meine ich das«, sagte Frau Henning, und alle drei Frauen nickten synchron mit ihren wippenden Dauerwellen.
    »Das Friedhofskind, das steht sich gut mit den Toten«, flüsterte eine der anderen. »Manchmal sitzt es und starrt stundenlang ins Leere. Spricht mit ihnen. Immer schon, schon mit drei oder vier, hat er da gesessen, bei den Gräbern … sie helfen ihm, die Toten. Er ruft sie, und sie helfen ihm. Na, der alte Kaminski, der hat wohl kaum noch Überredung gebraucht, der hatte sowieso ständig Streit mit seinem Sohn.«
    Sie nickten wieder alle drei, drei shakespearesche Hexen mit Dauerwelle, dachte Siri, Saatkartoffelhexen. Sie fühlte das Lachen in ihrer Kehle, aber es kratzte wie die Glasscherben eines Kirchenfensters.
    Vor dem Friedhofstor lehnte immer noch der junge Kaminski auf seiner Krücke.
    Siri mochte die Art nicht, wie er sie ansah. Sie mochte die Art nicht, wie sich das Licht in seiner rasierten Kopfhaut spiegelte. Er ließ sie nicht vorbei. Er streckte die freie Hand aus, und sie schüttelte sie, weil es nicht anders zu gehen schien.
    »Tach«, sagte er, nicht unfreundlich.

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