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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gekommen, und ich habe es zu spät begriffen. Jemand hatte ihr damals wohl gesagt, dass Lenz am Leben ist … zu spät gesagt, dass er am Leben ist … und du bist auch zu spät gekommen, damals, bist zu spät in das Ruderboot gestiegen, spätnachts. Und zu spät wieder aufgetaucht, nachdem wir dich pflichtschuldigst in der Erde verscharrt hatten. Einen ganzen Winter später; erst im Mai bist du gekommen … er hatte fast aufgegeben zu warten. Auch wenn ich ihm gesagt habe, dass du kommen würdest.«
    »Aber … ich bin …«, begann Siri hilflos. »Ich bin nicht …«
    »Sch, sch«, machte der alte Fuhrmann. »Setz dich noch ein wenig zu mir. Lass mich dir von Lotte erzählen. Was für eine wunderbare Person sie war. Lass mich dir erzählen … man kann nur einmal lieben, weißt du? Für mich war es Lotte. Sie war schön. Nicht alle haben das gesehen, für manche war sie nur gewöhnlich, braunes Haar, graue Augen, nichts Besonderes, weder dick noch dünn, weder groß noch klein … aber alles an ihr leuchtete, sogar das Braun ihres Haars, es leuchtete von innen heraus. Und ich dachte damals, sie wäre im Schneesturm erfroren, tatsächlich, das dachte ich; wir dachten es alle. Was blieb, war der Junge. Vier Monate alt. Ich habe ihn geliebt und gehasst, verstehst du das? Dafür, dass er überlebt hat und sie nicht. Weil ich dachte, dass es so war. Alles war falsch, falsch …«
    Er zupfte an Siris Ärmel, und sie beugte sich zu ihm hinunter, obwohl sie Angst hatte, dass er sie wieder packen und zu sich heranzerren würde. Aber diesmal tat er es nicht.
    »Jens«, flüsterte er, »mein kleiner Bruder … der verdammte Weichling, den Lotte geheiratet hat … er fühlte sich schuldig, weil sie sich gestritten hatten, ehe sie weg ist, raus in den Sturm … Weihnachten, hab ich das schon gesagt? Und dann ist er los, ein paar Tage später, um sich mit seiner Maschine um einen Baum zu wickeln. Feigling! Um seinen Sohn hat er sich keinen Deut gekümmert. Aber er hatte auch keinen.«
    »Wie?«
    »Jens Fuhrmann, Lottes Ehemann, der auf dem Friedhof liegt, hatte nie einen Sohn.«
    »Sondern?«
    »Na was? Was guckst du denn so? Ich kann es spüren, dass du guckst. Du kannst dir wohl denken, wer der Vater war. Ist.« Er lachte ein altes, raues Lachen, ein Lachen wie Schleifstein. »Lenz weiß es. Was denkst du, warum er bleibt? Hier, in diesem Loch, bei einem alten Mann, der nichts mehr alleine machen kann?« Der Husten, der ihn nach dem Lachen schüttelte, war vielleicht durchaus gewollt, denn er enthob Winfried einer näheren Erklärung.
    »Lass mich jetzt in Frieden«, keuchte er schließlich, außer Atem. »Geh … geh zurück ins Bett.«
    »Aber … wo ist …?«
    »Was weiß ich, wo der Junge ist?«, knurrte Winfried, mit einem Mal ungeduldig. »Die eigenen Kinder kann man ja doch nicht verstehen. Geh.«
    Wieder drüben, alleine in dem schmalen Bett, fragte Siri sich, ob sie das ganze Gespräch nur geträumt hatte. Für einen wie Winfried – und für einen Monolog mitten in der schwärzesten Nacht – waren die Worte beinahe zu klar gewesen. Klar und dennoch verworren. Er hatte versucht, ihr alles auf einmal zu erzählen, und die Fäden der Geschichten waren durcheinandergeraten, hatten sich in einen weißen undurchsichtigen Wirbel verwandelt, ein Schneechaos aus Teilwahrheiten … sie wollte darüber nachdenken, war aber mit einem Mal zu müde. Als sie die Augen schloss, war sie allein, und als sie sie wieder öffnete, lag ein schlafender Körper neben ihrem, Haut an Haut. Sie drehte sich um und sah ihn an; das vier Jahrzehnte alte Kindergesicht des schlafenden Riesen, die Augen fest geschlossen; hinter den kaum merklich zuckenden Lidern stumme Träume.
    Draußen stieg die Sonne auf und malte goldrote Lichtkringel an die Wände der Schräge.
    Es war sehr still im Haus.
    Siri stand auf, suchte ihre Kleider zusammen und zog sich leise an. Nicht leise genug. Als sie in ihre Schuhe schlüpfte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
    »Warte«, sagte Lenz, seine Stimme noch die eines Schwimmers auf dem Meer des Schlafs. »Warte, was … wohin …« Er brach ab. »Es geht mich ja nichts an.«
    »Die Glasfenster in Frau Hartwigs Keller rufen mich«, sagte Siri und lächelte. »Ich muss das Blau endlich ersetzen. Und das letzte Fenster existiert noch nicht mal in der Vorzeichnung … höchste Zeit, anzufangen.« Sie drehte sich zu ihm um und sah in die grauen Steinaugen, die so ganz anders waren als zu Beginn,

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