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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie ist wiedergekommen … zu spät …« Dann wurde Siri gänzlich wach und schüttelte den Kopf über sich selbst. Unsinn. Es war nur ein Traum gewesen. Sie beugte sich hinab zu Lenz’ schlafender Gestalt, die neben ihr unter der Decke lag. Im Schlaf sah er wieder aus wie ein Kind, klein und zusammengerollt … nein. Es war nur die Decke. Lenz war nicht da. Siri schnappte nach Luft.
    Er wird ins Bad gegangen sein, dachte sie, auf die Toilette, es ist ganz normal, nachts zur Toilette zu gehen. Aber sie brachte es nicht fertig, sich einfach wieder hinzulegen. Leise stand sie auf, zitternd in der kühlen Nacht, und schlich barfuß hinaus in den Flur. Das Haus war dunkel, unter keiner Tür drang ein Licht hervor, auch nicht unter der Tür des Badezimmers. Sie glaubte, eine Bewegung neben sich wahrzunehmen, und zuckte zusammen, doch es war nur eine Ratte, die genauso erschrocken davonhuschte.
    Siri bemühte sich, keinen Lärm zu machen, als sie die Tür zu Winfried Fuhrmanns Zimmer öffnete. Jetzt roch es nicht mehr nach Staub und abgestandenem Urin. Es roch nach der Nacht draußen, einer süßen und schweren Sommernacht. Ein Windhauch bewegte die zeitzerfressenen Spitzenvorhänge. Das Fenster stand weit offen, und draußen über dem Hügelland hing der Mond, der beinahe voll war.
    Siri sah dem alten Fuhrmann eine Weile beim Atmen zu, sah, wie sich sein Brustkorb unter der Decke hob und senkte, hob und senkte, hörte das röchelnde Ein und Aus der Luft, die sich im Labyrinth seiner Lungen verfing und nicht mehr hinauswollte … Schließlich legte sie behutsam eine Hand auf seinen bloßen Arm. Sie hatte keine Angst, sie sagte sich, dass sie keine Angst hatte; sie hatte sich den geblümten Regenmantel umgelegt. Sie war nackt, bis auf den Mantel.
    »Winfried«, flüsterte sie. »Ich bin es. Winfried … ich habe geträumt … und Lenz ist verschwunden … warum haben Sie gesagt, dass Lotte zurückgekommen ist? Lotte, Lenz’ Mutter?«
    »Ist denn schon Tag?«, wisperte Winfried zurück.
    »Nein«, sagte Siri.
    Der alte Fuhrmann seufzte. »Vielleicht wird es auch gar nicht mehr Tag«, knurrte er. »Was meinst du, kleine Iris?«
    »Ich bin nicht Iris«, flüsterte Siri. »Es tut mir leid. Alle wollen so sehr, dass ich Iris bin. Aber ich bin es nicht.«
    »Kleine Iris«, sagte der alte Fuhrmann. »Lotte ist zurückgekommen, aber ich habe sie zu spät erkannt. Sie kam mit einem anderen Namen, so wie du. Sie dachte, es wäre tot, ihr Baby, ihr Kind … sie dachte, sie wäre schuld und es wäre im Schneesturm geblieben. Hat sich mitnehmen lassen, weg, rüber in den Westen damals, und weiter, weg, weg … eine bildhübsche Frau, diese Charlotte Fuhrmann, wer will so eine Frau nicht mitnehmen … vorher, lange vor dem Sturm, waren wir mal ein Paar. Aber dann hat sie natürlich ihn geheiratet, nicht mich, weil er einen anständigen Beruf hatte. Totengräber – vergiss es. Keine Frau heiratet einen Totengräber. Jens war Schlosser, das war was anderes. Und jünger war er und sah besser aus. Na, sie hat es bereut. Dass der nichts taugt, hat sie schnell gemerkt, alleingelassen hat er sie mit dem Baby, war hier und dort, aber niemals greifbar, obwohl er behauptet hat, er würde sie ja so sehr lieben … besaß doch die Frechheit, das zu behaupten, mein kleiner Bruder. Ha. Aber sie ist wiedergekommen, durch den Sturm, Heiligabend war’s, nur hat sie mich nie erreicht … ich hab umsonst gewartet, kleine Iris, ich hab immer umsonst gewartet. Und dann ist sie ein zweites Mal wiedergekommen … warum erzähle ich dir das alles? Mitten in der Nacht?«
    »Bitte«, wisperte sie. »Erzählen Sie weiter!«
    Und er war froh, dass er erzählen konnte, sie hörte die Erleichterung in seinem schweren Atem. Sie war vielleicht die Letzte, der er etwas erzählte.
    »Ich habe ein Auto in den Schneesturm geträumt«, flüsterte sie. »War da eines?«
    »Muss wohl«, flüsterte Winfried. »Muss wohl eins da gewesen sein. Weiß der Teufel, wie sie an die Papiere gekommen ist, später. Um noch mal zu heiraten, obwohl sie ja schon verheiratet war. Zurückgekommen ist sie erst viel, viel später. Zu spät. Zu spät für sie selbst, in jedem Fall. Weißt du, wann ich sie erkannt hab, kleine Iris? Das war, als sie schon unten in ihrer Grube lag. Ohne das ganze Drumherum des Lebens, die ganze Schauspielerei und das Make-up. Da wusste ich, wer sie war. Alles … alles, kleine Iris, passiert ständig zu spät. Merk dir das. Lotte ist zu spät

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