Friedhofskind (German Edition)
die Jahrzehnte verlernt, dieses Haus zu bewohnen. Die staubige Dunkelheit klebte fest in den Ecken.
Und schließlich gaben sie auf und ließen Winfried mit der Dunkelheit allein. Draußen schien an einem ersten Septembertag eine schmale Sonne, aber natürlich war es hier erst Juli. Der Sommer empfing sie mit Blumenaugen und Kaninchenohren. Und die große, alles umfassende Erleichterung erreichte Siri in dem Moment, in dem sie vor die Tür des dunklen Hauses unter einen blauen Himmel trat. Sie umarmte Lenz einen Moment lang ganz fest.
»Die Datsche«, flüsterte sie. »Wir ziehen einfach in die leere Datsche. Das ist besser.«
Er nickte. »Ich muss mich darum kümmern, dass Winfried ein anständiges Begräbnis bekommt …«
»Ja«, sagte Siri. »Ja. Tu das. Und ich gehe und kümmere mich darum, dass das blaue Glas einen anständigen Platz in den Bildern bekommt. Und dann finden wir uns irgendwo wieder und werden ein Teil des Sommers. Es ist ja noch etwas davon übrig. Wir sind … wir sind frei, Lenz! Wir können machen, was wir wollen!«
Sie fasste ihn an den Händen und drehte ihn mit sich im Kreis herum, obwohl er sich sträubte.
»Ja, einen Rest vom Sommer haben wir noch«, sagte Iris neben ihnen. »Einen allerletzten Rest. Ihr solltet vielleicht das Ruderboot finden.«
Sie begruben Winfried an einem Sonntag eine Woche später.
Als Lenz die Grube aushob, stand Siri neben ihm und hielt den Eimer, in dem die Blumen darauf warteten, auf das frische Grab gepflanzt zu werden. Das Leben war in eine seltsame Art von seifenblasigem, zerbrechlichem Alltag hinübergerutscht. Er konnte jeden Moment zerplatzen, sie spielten ihn nur, sie spielten Wir-sind-ein-Paar-und-alles-ist-gut.
Die Leute aus dem Dorf sahen sie mit einer neuen Sorte von Misstrauen an, mit einem beinahe begeisterten Hab-ich’s-doch-gewusst-Misstrauen, mit einem freudig gespannten Die-beiden-werden-ein-schlimmes-Ende-nehmen-Misstrauen und mit unverhohlener Die-möchte-ich-mal-im-Bett-beobachten-Neugier.
Sie waren in die alte Datsche gezogen, mehr oder weniger, wie zwei Kinder, die sich eine Höhle im Wald gebaut haben und dort übernachten. Siri arbeitete noch in Frau Hartwigs Kellerwerkstatt, aber sie schlief nicht mehr in der Ferienwohnung.
Der Sommer breitete einen grünen Schleier über alle Wahrheiten und Unwahrheiten, und wenn sie zusammen über die Felder gingen, sprachen sie wenig. Manchmal war Iris bei ihnen. Sie bauten ihre Schiffchen am Wasser zu dritt, und sie kletterten zu dritt auf die Bäume. Manchmal ließ Siri ihn mit Iris allein, weil auch das sein musste. Die Fenster wuchsen jeden Tag. Siri trug Schmelzfarben auf, kratzte Muster hinein, brannte Glas um Glas in dem kleinen Ofen; ätzte Wahrheiten aus dem Blau. Noch hielt das blaue Glas, man durfte es nur nicht zu sehr unter Druck setzen.
Als die vier Männer sich nach den Seilen bückten – Lenz, Kaminski, Werter und der Tapirhundemann –, als sie sich bückten, um den Sarg des alten Fuhrmann in seine Grube hinabzulassen, spürte Siri die Spannung in der lauen Luft, aber sie spürte auch den Waffenstillstand; diese Tage waren eine Art Auszeit. Tage zum Atmen.
Der Pfarrer hielt seine Ansprache, ohne dass jemand ihm zuhörte, und die Kuchenfraktion der Frauen stritt sich wegen der Platzierung der Kuchen auf dem langen Tisch. Die weißen Papierservietten wurden vom Wind fortgetragen, und über die Bäume des Friedhofs zogen die weißen Tauben, die Kaminski gehörten. Sie saßen alle gemeinsam am Tisch, es war die gleiche Szene wie jedes Mal. Siri spürte den Schmutz hinter den polierten Kulissen, und einmal drückte sie Lenz’ Hand unter dem Tisch, ganz kurz, denn er saß mit ihnen dort, saß ihr gegenüber an einem der Klapptische, die zu einer so langen wie wackeligen Tafel zusammengestellt waren. Keiner von ihnen rührte den Klaren an, den der Umbrich herumreichte.
»So wie ihr dasitzt, könnten wir ja bald mal was anderes feiern in dieser Kirche, was?«, sagte der Umbrich, selbst nicht mehr ganz nüchtern, und gab Siri einen freundlichen Knuff in die Seite. »Immer nur Beerdigungen … das ist auf die Dauer nichts … aber wenn man euch so sieht, könnte man ja drauf kommen, dass wir hier mal ’ne Hochzeit feiern.«
»Um Gottes willen, Herr Umbrich«, sagte Frau Hartwig und reichte Siri ein schmallippiges Lächeln über den Tisch. »Sie reden von Dingen, die Sie gar nichts angehen. Frau Pechten ist doch bereits verheiratet, oder nicht? Sie hat einen Mann in
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