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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Finger krallten sich in ihre Schulter, und sie schnappte nach Luft vor Schmerz. Sein Griff war erstaunlich kräftig.
    »Ich sag dir eins«, flüsterte er, heiser, wieder hustend. »Kleine Iris. Es kommt alles drauf an, wie man es sieht. Und was man sieht. Und was nicht. Ich weiß, was Aljoscha zu sagen hatte, viel war es nicht, aber ich weiß es. Warum bist du da rausgerudert, ganz allein? In der Nacht? Na, das weiß ich vielleicht auch. Und das Boot … ich weiß, was er im Boot gefunden hat, ich weiß es, aber es geht niemanden etwas an.«
    »Aljoscha?«, fragte Siri. »Aljoscha hat etwas im Boot gefunden?«
    »Nicht Aljoscha«, sagte Winfried und hustete schon wieder. »Ha, nein, der nicht. Der hat ihn nur nach Hause kommen sehen. Unser feiner Direktor hat das Boot rausgezogen, aber dann hat er den Mund gehalten, er und ich, wir haben entschieden, wir halten den Mund; weiß nicht, ob es richtig war. Nur eins weiß ich, ich weiß, wer dafür gesorgt hat, dass Aljoscha da draußen absäuft, mit zu viel Alkohol im Blut. Ich weiß es. Ich weiß auch, wer die Henning die Klippe runtergeschickt hat.« Er lachte auf einmal. »Ich weiß! Ich weiß!«
    »Wer denn?«, fragte Siri. »Wer?«
    »Komm«, flüsterte Winfried. »Komm, mein Kind, dann sage ich es dir …«
    Er zog sie näher zu sich heran und trotz ihrer Abscheu vor dem alten, verbrauchten, übel riechenden Körper ließ sie sich ziehen, bis ihr Gesicht dem des Alten ganz nahe war. Und dann riss er sie mit einem letzten Ruck noch ein wenig näher und küsste sie. Seine Lippen waren wie altes Leder, das sich auf sie presste, um sie zu ersticken. Sie wich zurück, aber er hielt sie fest, und dann stieß er sie fort und lachte.
    »Du glaubst«, flüsterte er, »gerade dir sagt der alte Fuhrmann, was er weiß? Nein, mein Kind, gerade dir mit deinem geblümten Mantel sagt er es ganz bestimmt nicht.«
    Damit sank er zurück in die Kissen, schloss die blinden Augen und rührte sich nicht mehr. Siri sah, dass er atmete, aber er hatte nichts mehr zu sagen. Sie merkte, dass sie zitterte.
    Ihre Beine rannten ohne sie die Stiege hinunter, sie fiel auf einen der Küchenstühle und legte den Kopf auf die Arme, unter sich die Kerben des Tisches, der ein Friedhof war. Sie weinte nicht, sie saß nur so da, das Gesicht in den Armen verborgen, und wartete, dass ihr Herz aufhörte zu rasen.
    »Siri«, sagte Lenz hinter ihr. »Siri? Es tut mir leid, dass … er hat nicht mehr lange. Er dreht durch, weil er Angst vor dem Ende hat, er hat wahnsinnige Angst, du solltest ihn hören, wenn er nachts weint. Ich glaube auch nicht, dass er irgendetwas weiß. Er weiß gar nichts. Er will nur wichtig sein. Ein letztes Mal noch, bevor es zu Ende geht mit ihm.«
    Siri nickte.
    »Er hält mich für Iris.«
    Lenz sagte nichts.
    »Ich bin nicht Iris, Lenz.« Sie sah auf. »Glaubst du mir das? Glaubst du mir, dass ich nicht Iris bin?«
    Er drehte sich um und öffnete einen der alten Hängeschränke, stellte eine Pfanne auf den Gasherd.
    »Spiegeleier?«, fragte er. »Es ist kein richtiges Abendessen, aber besser als nichts … die Kaninchen haben die Eier gelegt …« Sein Lachen war hilflos, der Witz ein wenig zu bemüht.
    Siri nickte, erschöpft. »Spiegeleier sind eine gute Idee.«
    Die Blechteller hatten Rostflecken. Sie standen schlecht auf dem zerfurchten Tisch.
    Sie saßen in ihrem eigenen Schweigen wie in einer zähen Masse und aßen und sahen sich nur manchmal an.
    Und Siri stellte sich vor, wie es wäre, wenn es immer so wäre. Winfried würde weiter oben in seiner Kammer vor sich hin sterben, ohne wirklich den Absprung zu finden, und sie würde hier wohnen, zusammen mit ihm und Lenz, zwischen Blechtellern und Spiegeleiern. Und irgendwann würden die Schatten sich bis in sie hineingefressen haben.
    »Wenn Winfried stirbt«, sagte Lenz unvermittelt, als hätte er ihre Gedanken gelesen, »zünde ich das Haus an.«
    »Bitte?«
    »Nichts. Es war nur so eine Idee.«
    In dem winzigen Zimmer unter dem Dach stieß er mit dem Kopf beinahe an die Schräge.
    Er wies auf das schmale Bett, auf das niedrige Fenster, zuckte die Schultern. »Und hier willst du schlafen?«
    »Ja«, sagte sie.
    Das Bett war zu schmal für zwei. Sie rollte den Regenmantel zusammen und legte ihn darunter.
    Und endlich lagen sie da, auf dem Rücken, dicht nebeneinander, und blickten zur Decke.
    »Hast du in Berlin den Mann getroffen, mit dem du telefonierst?«, flüsterte Lenz.
    »Nein«, flüsterte Siri.
    »Es … ergab

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