Friedhofskind (German Edition)
weiß. Er war immer da … er war mein Zuhause. Trotz seiner Dunkelheit. Wir haben die Dunkelheit geteilt. Er war der Einzige, der die Sache mit Iris verstanden hat.«
»Er hat dich immer nur Junge genannt. Er hat dafür gesorgt, dass du acht Jahre alt bleibst. Auch bei den Leuten.«
Lenz nickte. »Ich glaube, er hatte Angst, dass ich weggehe, wenn ich erwachsen werde. Also durfte ich nicht erwachsen werden. Aber ich … ich habe Angst. Es war immer in Ordnung, acht Jahre alt zu sein. Bis … vor Kurzem.« Und auf einmal stand er auf und schrie, wieder ein achtjähriges Kind: »Ich … ich will nicht, dass er tot ist! Ich will nicht, dass er weg ist und nie wiederkommt! Nicht … auf diese Weise! Ich will noch einmal mit ihm reden! Ich will …« Er hob die Hände, ließ sie sinken, weil er an die Schräge stieß, und sackte auf der Bettkante in sich zusammen.
Und Siri sah an ihm vorbei zu Winfrieds leerem Körper hin.
Das Kopfkissen, dachte sie. Es lag neben dem Kopf des alten Fuhrmann, der Kopf lag nicht darauf. Das Kopfkissen konnte Zufall sein. Oder eine Waffe. Der alte Fuhrmann, dachte Siri, hätte vielleicht noch ein paar Tage gehabt. Wochen sogar. Jemand hatte nachgeholfen. Er hatte gesagt, er würde den Mörder kennen, auch wenn es vielleicht nur Angeberei gewesen war. Jemand hatte ihn das sagen hören, jemand, dem es zu gefährlich schien.
Wer war nachts im Haus gewesen? War jemand da gewesen?
Oder hatte Lenz … nein, sagte sie sich. Ich will das jetzt nicht denken. Ich will nicht denken, dass du es warst.
Sie setzte sich zu Lenz auf die Bettkante und lehnte sich an seinen Rücken.
»Lenz«, flüsterte sie nach einer Weile. »Siehst du sie? Auf dem Schrank?«
Lenz hob den Kopf. Er wischte sich mit dem Ärmel seines grauen Hemdes übers Gesicht und blinzelte.
»Iris«, sagte er. Er sah sie.
Sie kletterte vom Schrank, wobei ihr der Saum des blauen Kleides in die Quere kam. Und dann stand sie vor ihnen, die Arme verschränkt, und lächelte die Traurigkeit aus ihren Augen weg. Und sie sahen sie beide, tatsächlich.
»Winfried ist gegangen«, sagte Lenz, »und du … du kommst zurück?«
Iris nickte. Ihre blonden Locken wippten auf und ab, wenn sie nickte, trotz ihrer Zerzaustheit noch postkartenschön. »Ich war die ganze Zeit über hier«, sagte sie. »Nur eine Weile hast du mich nicht gesehen. Ich dachte schon, du … ihr … braucht mich nicht mehr. Aber das war wohl falsch gedacht, was? Ihr beiden …« Sie warf den Blondkopf zurück und lachte. »Ihr habt ja so ein schlechtes Gewissen, dass es knirscht!« Sie nickte zu Winfried auf dem Bett hin. »Aber ihr könnt wieder aufhören, euch Sorgen zu machen. Jeder wird euch glauben, dass er einfach so gestorben ist. Mit einem Naturtod … wie heißt das?«
»Eines natürlichen Todes?«, fragte Siri.
Iris nickte. »Ganz genau.«
»Ist er das denn nicht?«, fragte Siri.
»Es ist Zeit, mit dem Heulen aufzuhören«, sagte Iris und streckte ihre kleine Hand aus, um Lenz mit ihrem Zeigefinger behutsam eine Träne vom Gesicht zu wischen. »Warum machen wir nicht mal die Fenster auf? Draußen ist doch mehr Licht. Es könnte reinkommen. Es wartet schon so lange darauf, dass es reinkommen darf, es hat sich da draußen jahrelang gestaut und gedrängelt …«
»Nein«, sagte Lenz. »Wir können die Fenster unten aufmachen, überall, aber nicht in diesem Zimmer. Die Dunkelheit gehört Winfried. Sie ist seine. Wartet –«
Während er fort war, sah Iris Siri an, und Siri sah Iris an.
»Sie glauben alle immer noch, dass ich du bin«, sagte Siri.
»Sie glauben ja auch, ich wäre du«, sagte Iris.
Dann nahm sie Siris Hand und drückte sie einen Moment. »Ich war furchtbar eifersüchtig«, sagte sie. »Aber es nützt gar nichts. Es ist jetzt in Ordnung.«
»Iris … bitte … wer hat nachgeholfen? Mit Winfried?«
Iris schüttelte den Kopf. »Ich dachte«, sagte sie, »das weißt du am besten.«
In diesem Moment kam Lenz wieder, und er trug zwei rote Grablichter. Er stellte sie links und rechts neben Winfrieds Bett, dann trat er zurück und nickte. Auch dies, dachte Siri, ist wie ein Kinderspiel – wir spielen Totsein.
Dann gingen sie nach unten und rissen alle Fenster auf. Sie streiften die Gardinen von den Gardinenstangen und legten sie auf einen Haufen in die Küche, und Lenz sagte, man könnte sie vielleicht verfeuern. Aber etwas war merkwürdig: Es half nichts. Das Licht kam trotzdem nicht herein. Es war, als hätte das Licht über
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