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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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in das Gesicht, das nicht mehr grob und hässlich war. Alles war eine Frage des Betrachters.
    »Es ist ein ganz normaler Tag«, sagte sie. »Ein Arbeitstag. Ich gehe die Fenster weitermachen und komme zurück hierher. Oder wir treffen uns irgendwo. Und heute Abend essen wir Spiegeleier in der Dunkelküche und schlafen in einem zu schmalen Bett. Es kann alle Tage so sein. Eine Weile.«
    Lenz nickte langsam, zögernd. Er streifte Hemd und Hosen über und folgte ihr in den Flur. Die Tür zu Winfrieds Schlafzimmer stand halb offen.
    »Verdammt«, sagte Lenz. »Ist er aufgestanden? Hoffentlich finden wir ihn nicht irgendwo im Haus, wo er sich hingeschleppt hat, er ist immer seltsamer geworden in den letzten beiden Tagen.«
    Siri überlegte, ob sie es gewesen war, die die Tür offen gelassen hatte. Sie hatte gedacht, sie hätte sie geschlossen.
    »Lenz?«, sagte sie leise. »Heute Nacht bin ich einmal aufgewacht … und du warst nicht da … du warst lange nicht da … wo warst du?«
    Er zuckte die Schultern. »Draußen. Manchmal kann ich nicht schlafen, dann gehe ich hinaus. Wenn die Luft im Haus zu eng wird. Es spielt keine Rolle, wohin. Aber, meistens … natürlich zum Friedhof. Du hast mich einmal dort getroffen.«
    »Ja«, sagte sie und dachte an den Schatten, vor dem sie geflohen war, den Schatten mit der Zigarette am Tor; Kaminski vermutlich, der sich in den Kopf gesetzt hatte, auf sie aufzupassen. Und an Lenz in der Dunkelheit und an ihren ersten Kuss. »Aber Winfried bist du heute Nacht nicht begegnet? Oder … jemand anderem? Im Haus?«
    »Jemand anderem?« Er sah sie an, verwirrt. Schüttelte den Kopf. »Nein. Wem?«
    »Ich habe geträumt … dass uns jemand beobachtet hat. Es war nur ein Traum, bestimmt, ich habe zu viel geträumt letzte Nacht. Auch von Winfried. Es war seltsam, er hat eine Art Rede gehalten in meinem Traum. Eine Abschiedsrede.«
    Sie streckte die Hand nach der halb offenen Tür und öffnete sie ganz. Lenz trat hinter sie, und sie sahen gemeinsam in den winzigen Raum. Winfried war nicht aufgestanden. Er lag auf seinem Bett, auf dem Rücken, und starrte zur Decke. Siri war mit drei Schritten bei ihm.
    Sein blindes Auge war starr, so starr wie das Glasauge, man konnte den Unterschied nicht mehr sehen. Sein Mund stand offen. Die Haut spannte um die Mundwinkel herum, sie glänzte seltsam wächsern. Seine Brust hob und senkte sich nicht, er war so still wie die Stille selbst, die an diesem Morgen das Haus füllte.
    Lenz war hinter sie getreten und schlug die Decke zurück, und da lag er vor ihnen, der alte, verbrauchte Körper in seinem schmuddeligen Schlafanzug, reglos wie eine Gipsfigur, auf merkwürdige Weise kleiner als am Abend zuvor, unbedeutend, äschern.
    Siri hatte das seltsame Gefühl, dass jemand sie beobachtete, und Winfried war es nicht. Sie drehte sich um.
    Auf dem Schrank, dem einzigen Möbelstück im Raum, leuchtete ein blaues Kleid. Sie saß dort, geduckt unter der Dachschräge, die Arme um die Knie geschlungen, und sah zum Bett herüber. Ihre weißen Socken strahlten unpassend hell in dem dusteren Zimmer, ihre Schnürstiefel glänzten, doch ihr Haar hing ihr wirr ums Gesicht, und ihre Augen blickten traurig. Sie nickte Siri zu, eine kaum merkliche Bewegung des Kopfes, und sah weiter zum Bett hin.
    Lenz kniete jetzt davor, er hatte Winfrieds Hand genommen und begonnen, sie zu streicheln, es war ein merkwürdiger Anblick, Siri war sich sicher, dass er nie zuvor Winfrieds Hand gestreichelt hatte.
    Sie beugte sich vor und streckte die Hand aus, um ihm die Augen zu schließen, doch Lenz fing ihre Hand ab.
    »Nein«, flüsterte er. »Lass ihn sehen. Lass ihn endlich etwas sehen.«
    Und dann legte er sein Gesicht in die Wachshand des alten Fuhrmann, und sie sah seine Schultern zucken. Sie stand ganz steif da, sie wusste nicht, was man in solchen Situationen tut. Sie wollte ihm die Hand auf die Schulter legen. »Wein doch nicht«, wollte sie sagen, »wein doch nicht. Er war alt und krank. Es ist besser so.«
    Leere Worte aus tausend Romanen. Sie sagte sie nicht.
    Sie suchte ehrlichere Worte. »Warum weinst du? Warum? Ihr habt euch gehasst. Ein Leben lang. Du wolltest, dass er endlich geht, jetzt ist er gegangen.«
    »Es war alles nicht so einfach«, sagte Lenz leise. »Natürlich haben wir uns gehasst. Aber auch geliebt. Beides zugleich. Er hat mich bei sich aufgenommen, er hat mich gerettet, später, als ich vier Jahre alt war, aus dem Schnee. Er hat mir alles beigebracht, was ich

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