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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sich nicht.«
    Er nickte. »Iris ist verschwunden.«
    »Das tut mir leid«, flüsterte sie, aber sie wusste nicht, ob es stimmte. Und dann rollte sie sich auf die Seite und küsste ihn, und das Bett war wirklich schmal, zu schmal, um weiter nur nebeneinanderzuliegen. Sie zog den Rest ihrer Sachen aus, um seine warme, atmende Haut dicht neben sich zu spüren, und etwas in ihr wollte Lenz die Wahrheit sagen, alle Wahrheiten, die sie besaß. Aber sie tat es nicht, weil sie nicht alle seine Wahrheiten wusste.
    Sie rollte sich auf ihn und küsste ihn wieder, und die Dunkelheit im Raum wurde klein und unbedeutend, und Winfried war nicht mehr im Nebenraum, sondern meilenweit weg.
    Ich habe dich sehr gern. Ich bin gekommen, um dich zu hassen, aber ich kannte dich nicht …
    – sch, sch, sag es nicht.
    Sie schwiegen.
    Sie bewegten sich schweigend auf der alten, stockfleckigen Matratze, auf dem zu schmalen Bett, bewegten sich schweigend ineinander, schweigend und atmend, und die Welt war nur eine Ableitung ihrer selbst, eine Funktion, ein abstraktes Ding, das sie nichts anging.
    Siri hatte die Augen geschlossen. Einmal öffnete sie sie, einmal sah sie sich um, sie wusste nicht, warum, und da stand jemand in der Tür und sah ihnen zu, stumm und aufmerksam. Eine zierliche Gestalt, zerbrechlich; ein Schatten. Aber nicht unbedingt Iris.
    Siri konnte sie nicht genau erkennen, es war zu dunkel, aber sie war sicher, dass sie da war.
    »Lenz«, flüsterte sie, »Lenz …«
    Aber er antwortete nicht, und sie schloss die Augen wieder, um die Gestalt nicht mehr zu sehen. Vielleicht musste sie dort sein, vielleicht gehörte sie zu dieser Geschichte, vielleicht war alles auf seltsame Weise richtig und Lenz wusste es.
    Später, als sie gemeinsam versuchten, wieder zu Atem zu kommen, drehte sie sich noch einmal um. Da war niemand. Die Tür stand auch nicht mehr offen. Wer auch immer sie beobachtet hatte, hatte sie geschlossen und war lautlos gegangen.
    Siri träumte in dieser Nacht. Sie träumte das erste Fenster der Kirche.
    Sie träumte die Sterne hoch am Himmel zwischen Israel und Ägypten, sie träumte die Flucht.
    Aber die Sterne wirbelten hinab und bedeckten die Erde in dicken weißen Wehen und waren Schneeflocken.
    Dann war da nichts mehr bis auf das weiße Wirbeln. Nichts zu erkennen. Die Welt bestand aus weißem Chaos. Es war, als teilte sie die Erinnerung eines anderen wie einen Film.
    Sie sah eine junge Frau mit einem Kinderwagen, zwischen den Flocken, gegen den Wind gestemmt. Er war längst zum Sturm geworden, ein Schneesturm, ein Dezembersturm, noch lange würden Schnee und Eis nicht tauen.
    Die Bäume der Allee waren kaum auszumachen im Schneetreiben und boten keinen Windschatten, an ihrer rissigen, spröden Rinde klebte der Schnee wie ein Tarnmantel.
    Die Frau schien zu wissen, dass sie keine Chance hatte. Dass der Sturm sie nicht entkommen lassen würde. Warum war sie losgegangen? Warum hatte sie die Wärme verlassen? War auch sie auf der Flucht? Wohin ging sie?
    Sie duckte sich noch tiefer.
    Die Frau konnte das Kind nicht sehen, aber vielleicht war der Schnee längst in die Ritzen zwischen den Decken gedrungen, vielleicht lag das Kind dort, steif wie ein Eisklumpen, die letzten Tränen in den winzigen Wimpern gefroren zu glitzernden, durchscheinenden Kristallen, die kleinen Fäuste für immer geöffnet in einem verzweifelten letzten Griff nach seiner Mutter.
    Siri, träumend, wusste, dass es nicht so war. Dass das Kind lebte.
    Und sie träumte weiter, träumte Lotte aus ihrem Traum fort, träumte jemanden, der wartete: Er stand unter der Tür des dunklen Hauses, unter dem niedrigen Reetdach, und sah ins Schneetreiben hinaus. Es war Winfried. Er hielt nach Lotte Ausschau, nach ihr und dem Wagen, vielleicht ahnte er, dass sie floh. Dass es Streit gegeben hatte, weil es immer Streit gab. In Siris Traum wusste er es. Aber Lotte kam nicht, kam nie, ließ den Wagen stehen und gab sich im Schneetreiben auf.
    Siri sah sie fallen, aufstehen, im Sturm in irgendeine Richtung wanken, ein paar Schritte nur, zu mehr war sie nicht in der Lage … und dann hörte sie das Motorengeräusch eines Wagens, mühsam, röhrend, auch er in seinem Metallgehäuse kämpfte beinahe aussichtslos an gegen den Schnee.
    Siri fuhr hoch und saß in der Dunkelheit aufrecht im Bett.
    »Jemand hat sie mitgenommen«, flüsterte sie. »Sie ist nie da draußen erfroren. Jemand hat Charlotte Fuhrmann aus dem Schnee geholt. Sie ist nicht tot. Winfried hat gesagt,

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