Friedhofskind (German Edition)
frei zu sein. Frei von Winfried. Nicht darauf lauschen zu müssen, ob jemand einen rief. Niemandem zu helfen und niemanden zu fragen. Es war eine Freiheit, die Lenz beinahe betrunken machte und in manchen Augenblicken Angst einjagte.
Es war auch seltsam, dass es Siri gab. Dass sie einfach existierte. Egal, wer sie war oder gewesen war. Wenn er aufwachte und sie neben ihm lag, in der alten Datsche auf der beinahe genauso alten Matratze, schloss er manchmal wieder die Augen, nur um sie noch einmal zu öffnen und den Moment ein zweites Mal zu erleben.
Ich bin nicht allein.
Ich bin nicht allein.
Ich bin nicht allein.
Er erinnerte sich nicht, wie es anfangs mit Iris gewesen war. Es war zu lange her. Hatte er das Gleiche gedacht, wenn sie in jenem Sommer den Sandweg entlanggerannt kam, um ihn zu treffen? Er war nie neben ihr aufgewacht. Es hätte so sein sollen, etwas sagte ihm, dass er an dem Morgen nach ihrem Unfall neben ihr hätte aufwachen sollen, in der geheimen Bucht, die nur ihnen gehörte.
Es nützte nichts, sie danach zu fragen, sie antwortete nicht.
Das war auch seltsam: dass Siri Iris sah. Dass sie manchmal zu dritt Dinge taten. Wie eine sehr skurrile Familie. Sie mochten sich, Siri und Iris, auf eine ihm unerklärliche Weise. Vielleicht war es seine Liebe, die sie verband, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten.
Tagsüber arbeitete Siri in Frau Hartwigs Kellerwohnung, und er arbeitete auf dem Friedhof, grub Beete um, hielt Hecken in Ordnung, fuhr mit dem Rad zu den anderen Friedhöfen, wenn sie ihn brauchten. Spätestens wenn die Sonne in Schlieren aus Septemberpulver in einem glutgrauen Himmel versank, trafen sie sich. Alles war, als lebte man. Als lebte man wie andere Leute auch.
Ab und zu ging er zu dem alten Haus, um nachzusehen, ob die Dunkelheit gewichen war. Sie hatten die Fenster offen gelassen. Er hatte erwartet, die Dunkelheit würde langsam, aber kontinuierlich verschwinden, die Dunkelheit jedoch blieb. Er schleppte Dinge in die Datsche: Töpfe und Pfannen, Decken, seine wenigen Kleider. Das Haus wurde leerer, aber nicht heller.
Er besuchte Winfrieds Grab nie, er machte einen Bogen darum.
Stattdessen schaltete er in der alten Küche manchmal den Fernseher an und saß eine Zeit lang davor, und das war, als spräche er mit Winfried. Oder eigentlich, als schwiege er mit Winfried. Sie hatten häufiger zusammen geschwiegen.
An dem Tag, an dem Siri das erste Fenster in der Kirche einbaute, stand er am Küchenfenster und sah hinaus, das Geräusch des Fernsehers im Hintergrund. Er dachte an das Fenster, Schneesturm vor Ägypten, und lächelte und war merkwürdig stolz auf Siri, die dieses Fenster gemacht hatte, durch das von nun an alle Menschen sehen würden, die die Kirche betraten. Sie würden durch Siris Augen sehen, sie würden, ohne es zu wissen, seinen Schneesturm sehen und Lotte, die ganz gewöhnliche und unvergleichlich schöne Charlotte Fuhrmann, mitten darin.
In dem Moment, in dem er das dachte, machte jemand den Fernseher aus.
Die Staubkörner zitterten im Licht der Stille, als hielten sie ihren Flug mitten in der Luft an. Lenz drehte sich nicht um. Da war eine unerklärliche Spannung in der Luft.
»Kaminski?«, fragte Lenz. »Werter?«
»Nein«, sagte Annelie. »Nein, nein. Nur ich.«
Da drehte er sich doch um. Sie stand in der Küchentür, klein und hell; sie war das einzig Helle zwischen den Schatten des Hauses. Sie sah sehr klein aus, obwohl die Tür niedrig war; er musste sich bücken, wenn er hindurchging.
»Ich gucke mir ab und zu die Dunkelheit an«, erklärte Lenz mit einem hilflosen Schulterzucken. »Ich dachte, sie würde das Haus verlassen.«
Annelie schüttelte langsam den Kopf. »Diese Dunkelheit nicht«, sagte sie. »Sie hat sich über zu viele Jahre angesammelt. Ich weiß noch, wie oft ich hier stand, als du ein Baby warst … wie oft ich versucht war, dich einfach mitzunehmen. Nicht nur zu helfen, unbemerkt … sondern dich mitzunehmen zu mir, dich zu stehlen, jemand anderen aus dir zu machen.«
»Aber du hast es nicht getan.«
»Nein. Es wäre nicht richtig gewesen.«
Er ging zu ihr hinüber und nahm ihren zerbrechlichen, winzigen Körper in die Arme.
»Ich war immer allein«, flüsterte sie. »Aber jetzt bin ich alleiner als irgendwann zuvor. Du brauchst mich nicht mehr. Du hast die Fensterfrau. Du brauchst mich nicht mehr, so wie du Winfried nicht mehr gebraucht hast. Vielleicht, Lenz … vielleicht wird es Zeit für mich, zu gehen. So wie er
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