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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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drehte sich nach ihm um und sah zu ihm hinunter, Kaminski war erstaunlich viel kleiner als er. Er sagte nichts, sah ihn nur an. Kaminski drehte sich um, und offenbar wurde ihm klar, dass keiner seiner engeren Freunde da war, weder der Tapirmann noch die anderen. Nicht mal die Fischer.
    »Geh schon weiter, Friedhofskind«, zischte er. »Geh mit deinen Freunden. Aber die fliegen irgendwann hochkant hier raus, das sag ich dir. Ich mach hier noch mal reinen Tisch. Arbeiter und Bauern, hieß doch mal so, und was anderes brauchen wir auch nicht. Keine Mörder und keine Ferienfaulenzer. Direktoren, Professoren, sonst was.« Er hatte die Fäuste geballt, und der Umbrich legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    Siri zog Lenz am Ärmel seiner Arbeitsjacke durch das Tor.
    Sie sprachen über Belangloses auf dem Weg durch die Hügel zum Wasser hinunter. Aber Lenz schwieg, er hatte nie gelernt, über Belangloses zu sprechen. Entweder sagte man etwas oder man ließ es, hatte Winfried gesagt. In der Gegenwart von Lena, dem Direktor und dem Baby, die sich mit Siri über das Wetter in Berlin unterhielten, vermisste er ihn auf einmal. Es war wie ein Stich in der Brust.
    Er vermisste ihr Schweigen in der Küche, er vermisste den abgestandenen Geruch des alten Hauses, den zerfurchten Tisch, dessen Narben nur Winfried und er hatten deuten können; er vermisste sogar die Dunkelheit. Und er vermisste die Hintertür von Annelies Veranda, die er seit Wochen nicht geöffnet hatte.
    »Lenz?«, sagte Siri. Sie hatte ihn untergehakt, und er hatte es nicht mal gemerkt. »Du träumst … wir sind zum Abendessen eingeladen, ist das nicht nett von ihnen?«
    Er nickte. »Ja. Sehr. Aber ich fürchte …« Er zögerte. »Ich fürchte, du musst allein hingehen. Ich bin verdammt müde. Heute war eine Menge zu tun … ich werde mich hinlegen.«
    Sie blieb stehen, ließ Lena und den Direktor vorausgehen. Sie waren beinahe bei den Datschen angekommen. »Was ist los?«, flüsterte sie.
    Er wich ihrem suchenden Blick aus. »Ich … du und Lena und ihr Schwiegervater … ich gehöre nicht dazu. Ich glaube, vielleicht … vielleicht kann ich das gar nicht werden … jemand, der glücklich ist und normal. Ich …« Er schüttelte den Kopf. »Ich rede wirr. Lass mich heute Abend allein sein. Nur eine Weile.«
    »Natürlich«, sagte sie und ließ ihn los. »Ich wollte dich nicht … nerven. Wenn ich zu viel da bin, musst du es nur sagen … natürlich, natürlich.« Sie ging rückwärts, Schritt um Schritt weiter weg, und er wollte ihr nachrufen: »Nein, warte! Es war doch nicht so gemeint …«
    Doch er wusste selbst nicht, wie es gemeint war.
    »Wir sehen uns später«, sagte er, und sie nickte. Dann drehte sie sich um und folgte Lena und dem Direktor, und er sah sie mit ihnen sprechen, erklären vermutlich, dass Lenz sich hinlegen würde.
    Er setzte sich auf die alte Matratze und versuchte zu begreifen, was er fühlte. Es war eine Art Heimweh – ein Heimweh nach all dem, was er abgelegt hatte. Die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Aussichtslosigkeit – das achtjährige naive Kind.
    »Iris?«, flüsterte er in die Nacht. »Iris, bist du hier?«
    »Natürlich bin ich hier«, wisperte sie. »Du brauchst nicht so zu schreien.«
    Sie lag neben ihm, ganz dicht. Es war schön, jemanden neben sich zu haben, nach dem man, da man acht war, keinerlei sexuelles Verlangen spürte. Es war einfach und entspannend.
    »Ich bin dabei, mich zu verändern«, flüsterte er. »Ich glaube, ich will es gar nicht. Ich habe Angst davor. Aber ich kann nicht zurück. Und Winfried wird nicht mehr lebendig. Und Annelie wird nicht ewig leben. Was sie gesagt hat … dass sie gehen wird, irgendwann … das macht mir auch Angst. Wenn bei Winfried jemand nachgeholfen hat … vielleicht hilft bei Annelie auch jemand nach.«
    »Armer Junge«, wisperte Iris und streichelte sein Haar, als wäre sie selbst Jahrmillionen alt. »Armer Junge. Sag mir eins … wegen dieser Morde … auf eine Person bist du nicht gekommen, oder?«
    »Bitte?«
    »Eine Person war immer dabei, oder hatte auf jeden Fall immer eine … wie sagt man das? Eine Gelegenheit. Es … fiel mir nur gerade so ein.« Sie gähnte und schmiegte sich in seinen Arm, und er lag mit offenen Augen da und starrte in die Dunkelheit.
    »Eine Person?«, flüsterte er. »Wer denn?«
    Doch sie schlief bereits tief und fest. Er roch die Mischung aus Backpulver und Seife in ihrem Lockenhaar. Auf eine Person war er nicht

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