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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gekommen … auf wen?
    Als er erwachte, war es Siri, die in seinem Arm lag, als hätte sich Iris in den unsichtbaren Stunden der Nacht verwandelt. Er sah sie eine Weile im ersten Licht des Morgens an, während die Kaninchen sich schläfrig in ihren Ecken regten. Die Sonne ließ die winzigen Härchen auf Siris Wangen weiß leuchten, und er fühlte sich auf merkwürdige Weise an Annelies weißes Haar erinnert.
    Eines der Kaninchen kam herübergehoppelt und beschloss, in Siris Ellenbeuge weiterzudösen.
    Auf ihrer Wange, zwischen den winzigen leuchtenden Morgenhärchen, fand Lenz eine Tränenspur.
    Er wusste nicht einmal, wann sie wiedergekommen war, er hatte zu fest geschlafen.
    Etwas in ihm tat weh.
    Auf eine Person, dachte er, bin ich nicht gekommen … eine Person war immer dabei …
    »Siri«, flüsterte er.
    Sie hatten alle gedacht, Frau Henning wäre versehentlich die Klippen hinuntergestoßen worden – er hatte nie geglaubt, dass sie von selbst gefallen war, egal, was Lena sagte. Frau Henning hatte eine Daunenjacke mit Blumen getragen, und er hatte gedacht, jemand hätte sie mit Siri verwechselt. Siri war am selben Morgen dort entlanggegangen, Frau Henning war ihr gefolgt, neugierig, um sie auszufragen … Siri war allein mit Winfried im Haus gewesen, während Lenz draußen herumgelaufen war. Aljoscha hatte etwas gewusst, hatte sich mit Siri treffen wollen … vielleicht war er nicht vorher ertrunken. Vielleicht hatte er sich mit Siri getroffen und ihr gesagt, was er zu sagen hatte. Vielleicht hatte sie gefunden, er sollte es für immer für sich behalten.
    Unsinn.
    Aber warum war Siri hier? Nicht wegen der Fenster. Er glaubte ihr die Fenster nicht mehr. Sicher, sie hatte den Auftrag, aber es gab einen Grund dahinter, darunter, dazwischen. Einen wahren Grund.
    Sie schlug die Augen auf und sah ihn an, mit diesem Blau, das er jahrelang in Iris’ Kinderaugen hatte blitzen sehen, diesem Kleiderblau, und er versuchte, hindurchzusehen, aber es war ein ganz und gar undurchsichtiges Blau.
    »Guten Morgen«, flüsterte sie. »Lenz … streiten wir noch?«
    »Streiten?«, fragte er, perplex. »Wir haben nicht gestritten.«
    »Ich hatte das Gefühl«, sagte sie und setzte sich auf. Er bemerkte erst jetzt, dass sie vollständig angezogen war. »Ich habe nicht verstanden, warum. Was war verkehrt?«
    Ihre Frage klang so ehrlich, dass er all seine kruden Theorien in einem Atemzug verwarf und sie stattdessen in die Arme schloss.
    »Tut mir leid«, flüsterte er. »Tut mir leid. Es ist nur … verstehst du … du redest mit Lena und dem Direktor, mit den Menschen von außerhalb, die die Welt kennen … die Städte … alles … und … die studiert haben, und für dich ist es … so einfach. Für mich nicht. Ich dachte immer, es wäre schön, dazuzugehören. Zu jemandem zum Abendessen eingeladen zu werden. Und gestern ist mir klar geworden, dass ich das gar nicht will. Dass ich das gar nicht kann. Ich habe es nie gelernt, zu irgendetwas dazuzugehören. Außer vielleicht … zu Winfried. Und ein bisschen zu Annelie. Nein, nicht einmal zu Annelie. Nein.«
    Sie legte ihr Gesicht an seine Schulter. »Du könntest es lernen, zu mir zu gehören.«
    Er lachte. »Nein.«
    »Aber … Iris …«
    »Das ist etwas anderes. Iris ist … ein Teil von mir. Etwas Inneres.«
    »Und ich sehe sie auch«, sagte sie, triumphierend, als wäre sie selbst ein Kind. Sie ließ ihn los, um ihn anzusehen. »Siehst du. Iris ist ein Teil von dir und ein Teil von mir, und also könnten wir zusammengehören. Ich meine, ich habe auch nie zu irgendetwas gehört. Du hast die Tragik nicht gepachtet.«
    »Du hattest Eltern …«
    »Eine Weile. Bis meine Mutter sich umgebracht hat. Meinetwegen, auch wenn keiner es jemals laut gesagt hat. Bitte sehr, da hast du deine blöde, überflüssige Tragik. Danach hatte ich nur einen Vater. Und wenn Winfried recht hatte, hattest du den auch.«
    Er sah sie an, unsicher. »Siri … streiten wir jetzt ?«
    »Nein«, sagte sie, »jetzt frühstücken wir, und dann fahren wir mit dem Ruderboot des Direktors aufs Wasser hinaus und haben einfach einen schönen Tag.«
    »Keine Fenster heute?«
    »Keine Fenster. Morgen, morgen kommt Maria Magdalena Iris dran. Sie kann wohl noch einen Tag warten nach so vielen Jahren.«
    Das Wasser glänzte in der Sonne wie tausend blaue Scherben, als sie das Boot vom Steg aus zu Wasser ließen. Lena stand daneben, in Jeans und Turnschuhen, mädchenhaft, das Baby im Arm, das

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