Friedhofskind (German Edition)
gegangen ist.«
»Du bist ja verrückt.« Er flüsterte die Worte in ihr duftendes weißes Haar wie in Schnee. Wie in Blüten. Wie in die Wellengischt einer stürmischen Nacht. »Winfried hat überhaupt mich gebraucht, nicht ich ihn …«
»Und wenn es bei mir genauso ist? Wenn ich dich brauche?«
Er lachte und ließ sie los. »Du? Du bist die stärkste Person, die ich kenne. Du hast immer meine Reste aufgesammelt, mich wieder zusammengeflickt, wenn ich auseinandergebrochen war, auf irgendeine Weise. Ich bin auch nicht aus der Welt. Wir schlafen nur draußen in der Datsche, das ist alles. Wegen der Dunkelheit. Ich kann zum Tee kommen. Morgen. Oder übermorgen. Wenn du willst. Einfach so.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du kommst nur, wenn ich dich zusammenflicken muss.« Und, ehe er widersprechen konnte, sah sie sich um und fuhr fort. »In der Dunkelheit wohnt die Erinnerung an deine Mutter, weißt du das? Sie ist es, die sie so dunkel macht. Charlotte. In der Dunkelheit wohnt immer irgendeine fehlgeschlagene Liebesgeschichte.«
Damit drehte sie sich um und ging, sie winkte noch einmal über die Schulter, ihre Hand blass und klein, ehe sie das Haus verließ.
»Ich weiß«, sagte er leise, aber sie hörte ihn trotzdem, sie hörte immer alles trotzdem, sie kannte ihn vielleicht so gut, dass sie seine Gedanken hörte.
»Ich weiß, Annelie. Winfried hat geglaubt, dass er mein Vater war. Ich weiß. Aber ich bin mir nicht sicher. Es ist nichts, was wir je herausfinden können.«
Als sie fort war, fragte er sich, wer in der Dunkelheit in den Ecken in dem blauen Haus wohnte. Es gab in diesem Dorf Geschichten, Geschichten, die zu Geschichten gehörten und Geschichten bedingten – Geschichten, die er nach all den Jahren noch immer nicht kannte. Womöglich hatten die Geschichten hinter den Geschichten nichts mit den Morden zu tun.
Womöglich aber doch.
Lena und der Direktor tauchten auf, als Siri das zweite Fenster einbaute. Sie standen eine Weile auf dem Friedhof herum und sahen zu, der Direktor mit dem Baby auf dem Arm. Sie sahen aus, als gefiele ihnen, was sie sahen. Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel.
»Ich wusste nicht, dass sie so viel Kuchen verkauft haben in diesem Tempel«, sagte der Direktor und grinste, und das Baby grinste unter seiner zu großen Nase mit ihm, und Siri lachte.
»Ich wusste auch nicht, dass sie weiße Tauben hatten«, sagte Lena.
»Der Tempel sieht eigentlich mehr aus wie ein Garten«, sagte der Direktor. »Oder wie ein Friedhof.«
Siri zuckte mit den Schultern. »Es kommt auf den Standpunkt des Betrachters an.«
Gegen Nachmittag versammelten sich Frau Hartwig, Herr Umbrich, Werter, Kaminski und die Katzenfrau mit ihren beiden Kindern ebenfalls auf dem Friedhof. Lena und der Direktor saßen auf der Bank am Tor und fütterten das Baby.
Es war interessant, dachte Lenz, diese beiden Parteien zu beobachten: die von außen, die Studierten auf der einen Seite – die zum Dorf Gehörigen auf der anderen. Sie sahen die Fenster gar nicht an und auch nicht Siri, die auf einer Leiter stand und ganz alleine arbeitete. Sie sahen sich an, sich gegenseitig, sie beschnupperten sich auf die Entfernung wie Hunde, nicht recht wissend, ob sie knurren sollten oder besser mit dem Schwanz wedeln.
Der Direktor hatte so lange hier gelebt, ab und zu hier gelebt – er war schon da gewesen, als Lenz ein Kind gewesen war, er erinnerte sich. Und doch war er nie auch nur annähernd ein Teil des Dorfes geworden, nicht wie Siri, bei der sie alle das unerklärliche Bedürfnis spürten, sie zu schützen.
Schließlich sagte der Direktor: »Es wird dämmerig. Wir gehen besser. Sehen Sie überhaupt noch etwas da auf Ihrer Leiter?«
»Nein«, sagte Siri und stieg hinunter. »Wird Zeit, Schluss zu machen.« Lenz klappte die Leiter für sie zusammen.
»Wir haben den gleichen Weg«, sagte Lena und schenkte Lenz ein Lächeln, das er in dem spärlichen Licht nicht einordnen konnte – war es ein bemühtes oder ein ehrliches Lächeln?
»Kommt.«
Der Direktor ging voran durch das Tor, und die Dörfler wichen zurück, als hätten sie Angst vor seinen langen Schritten. Lena, Lenz und Siri folgten ihm.
»Hast du die jetzt auf deiner Seite, was?«, sagte Kaminski leise, als Lenz an ihm vorbeiging. »Die Scheißintellektuellen aus ihrer Scheißferienidylle? Freundeste dich demnächst noch mit dem Professor an? Schade, dass der so selten da ist, sonst könntet ihr da draußen direkt ’nen Club aufmachen.«
Lenz
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