Friedhofskind (German Edition)
Hecken, als sie alleine im Garten der Datsche im Gras saß und auf einem Block Skizzen für das allerletzte Fenster machte, das sie noch immer nicht in Angriff genommen hatte. Lenz lärmte irgendwo drinnen, er hatte gesagt, die Datsche müsse einmal geputzt werden nach all der Zeit und all dem Staub.
Siri winkte dem Direktor. Sie hatte lange nicht mit ihm oder mit Lena gesprochen, nicht mehr als ein paar Worte der Begrüßung, und in diesem Moment tat es ihr plötzlich leid. Sie hätte Lena besuchen sollen, ab und an, der Direktor war nicht immer da, er war mal hier und mal in seiner Klinik, aber Lena schien überhaupt nicht mehr nach Hause in die Stadtwohnung zu fahren, die sie – theoretisch – mit ihrem Mann teilte. Auch Lena versuchte vermutlich nur, weniger allein zu sein. Und Siri hatte sie beiseitegeschoben, vergessen, verdrängt.
Sie stand auf und trat zögernd ans Tor.
Aber der Direktor sagte nichts über Lena. Er sagte leise: »Man sieht Sie ja kaum noch ohne den jungen Fuhrmann, seit Sie mit dem Ruderboot draußen waren, damals. Immer nur zu zweit …«
»Ja«, sagte Siri.
Der Direktor beugte sich ein wenig weiter über das Tor, und Siri trat unwillkürlich näher; es war eine seltsame Szene. »Ich würde gerne allein mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet … aber es kommt keine. Morgen bin ich für länger in der Stadt, diesmal für ein paar Wochen. Ich hätte gerne vorher …«
Siri glaubte zu spüren, dass jemand sie von der Datsche aus beobachtete, und fuhr herum. Doch es war niemand zu sehen.
»Was ist denn?«, wisperte sie und kam sich lächerlich vor, weil sie nicht lauter sprach.
»Ich habe etwas gefunden, an dem Tag, an dem ich auf Aljoschas Boot war …«
»Er wollte mir etwas sagen, aber ich dachte, er hätte sich nur wichtiggemacht. Hat es etwas mit Iris zu tun?«
Statt einer Antwort griff der Direktor in seine Jackentasche, doch in diesem Augenblick knarrte die alte Tür der Datsche, und Lenz kam über die Wiese, noch verstaubter und grauer als sonst. Sie wollte über ihn lachen, doch es gelang ihr in diesem Augenblick nicht.
»Heute Abend?«, fragte sie sehr leise. »Bei Frau Hartwig, in der Kellerwohnung? Ich muss sowieso weiterkommen mit den Fenstern. Wenn Sie mit mir sprechen wollen …«
Der Direktor nickte. »Wenn Lena und die Kleine schlafen«, sagte er. »Ich möchte ihr nichts erklären müssen, es wäre zu kompliziert. Würde sie nur beunruhigen, und das muss nicht sein. Neun?«
Siri nickte. »Ich werde da sein und warten. Hat es etwas mit Iris zu tun?«
»Nein«, sagte der Direktor. »Mit Carla Berg.«
Carla Berg.
Siri hatte ihre Existenz vollkommen vergessen. Sie versuchte, sich an die Geschichte von Carla Berg zu erinnern, aber ihr blieb keine Zeit dazu; Lenz stand jetzt neben ihr und legte einen Arm um sie. Sie sahen gemeinsam dem Direktor nach, der in seinen Anglerstiefeln davonging.
»Was wollte er?«, fragte Lenz und schüttelte sich, und der Staub stieg in einer Art Wolke von ihm auf.
»Er … er hat nur gesagt, dass er morgen für länger in die Stadt fährt«, antwortete Siri. »Ich glaube, er will, dass ich ein bisschen nach Lena sehe. Ich habe lange nicht mit ihr gesprochen.«
Lenz nickte. »Dann solltest du es tun. Niemand sollte mehr allein sein als unbedingt notwendig.«
Er ließ sich ins Gras der leicht abschüssigen Wiese fallen, und Siri ließ sich neben ihn fallen. Das Gras war weich und duftete nach dem Heu, zu dem es bald werden würde. Der Himmel über ihnen war weiß und an den Rändern brombeerfarben und zerfranst. Die Moleküle der Luft klangen nach Herbst, wenn sie aneinanderstießen.
»Bist du mit dem letzten Fenster schon weiter?«, fragte Lenz.
»Mit der Skizze … ein wenig«, sagte Siri.
»Das ist gut«, sagte er. »Ich meine, dass du nur ein wenig weiter bist. Wie lange … wie lange wirst du noch brauchen?«
»Ich weiß nicht … es kommt darauf an, was ich entscheide. Für das letzte Fenster. Zwei Wochen? Drei?«
»Entscheide langsam«, bat er und griff nach ihrer Hand, die neben seiner im Gras lag. Das Himmelsweiß über ihnen zog langsam vorüber, und Siri spürte den Druck der Hand in ihrer.
»An dem Tag, nachdem das letzte Fenster eingebaut ist, werde ich«, begann er, aber sie zog ihre Hand weg und rollte sich auf den Bauch, um ihm einen Finger auf die Lippen zu legen.
»Sei still.« Sie betrachtete ihn lange, mit ihrem Finger auf den Lippen, sein nicht vielleicht doch
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