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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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diese Luft, und der Wind noch schärfer, und dann –
    »Dann wird Winter sein«, flüsterte sie. »Das Meer wird zufrieren, und die Häuser werden in den Schneewehen ertrinken …«
    Sie drückte die Klinke der winzigen alten Kirche herunter und erschrak. Die Tür war offen. Der Umbrich hatte einmal mehr vergessen, sie abzuschließen. Siri trat leise ein und blieb einen Moment lang in der Schwärze stehen. Aber vielleicht war es gar nicht der Umbrich gewesen, der die Tür aufgeschlossen hatte …
    »Hallo?«, fragte sie leise. »Ist hier jemand?«
    Das Echo ihrer Stimme glitt an den Steinwänden ab und fiel leblos zu Boden. Siris Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit; sie konnte jetzt die Schemen der Kirchenbänke und eines Postkartenständers erkennen, ein paar aufgeschlagene Liederbücher mit Lesebändchen lagen auf den Bänken.
    Siri ging durch den Gang bis in die Mitte, drehte sich dort um und sah zur Nachtgestalt der Orgel empor. Ja, sie war genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte: die Schrägbalken, das Geländer, alles. Sie erinnerte sich genau daran, wie Winfried Fuhrmann diesen Gang entlanggetaumelt war, verletzt, blind, verzweifelt – wie Lenz aufgestanden war, um ihn hinauszuführen. Sie erinnerte sich an die Blicke der anderen, die Blicke, die auch ihr galten, als sie aufstand und half.
    War da nicht eine Bewegung auf der Orgelempore?
    Siri stand ganz still.
    Und das, was sich bewegt hatte, begann Konturen anzunehmen. Sie hatte Angst, es könnte zu dem Körper werden, den sie gezeichnet hatte, dem gesichtslosen, dem Ding, das das Dorf war und vom Dorf gehasst wurde.
    Aber es war nicht der Körper eines Erwachsenen. Es war der Umriss eines Kindes.
    »Iris?«, flüsterte Siri.
    »Möglich«, erwiderte Iris’ Stimme leise. »Möglich, dass ich es bin. Aber wer bist du? Hast du dich entschieden?«
    »Wieso – es gibt keine Rätsel mehr. Ich bin deine Schwester, und das weißt du. Das wissen alle.«
    »Das meine ich nicht«, sagte Iris. »Ich meine: Als was bist du hier?«
    »Als … jemand, der die Wahrheit sucht und … der wieder gehen wird, wenn er sie kennt.«
    »Ohne etwas … etwas zu tun? Bist du jetzt jemand, der nur zusieht? Ich weiß, was in der Manteltasche ist.«
    »Woher …?«
    Iris lachte. »Ziemlich einfach. Ich habe hineingesehen.«
    »Du weißt nichts. Gar nichts.«
    Sie tastete sich voran, setzte sich in eine der dunklen Bänke und spürte etwas Weiches, Warmes neben sich. Ihr Schreckensschrei verjagte es, ehe sie begriff: Es war ein Kaninchen gewesen. Ein zweites drückte sich gegen ihre Füße. Sie kamen also jetzt schon bis in die Kirche, die Kaninchen …
    »Wollt ihr mir etwas sagen?«, flüsterte Siri. »Ihr habt Aljoscha gehört …«
    Sie kraulte das Kaninchen zu ihren Füßen, und als sie aufsah, war die Orgelempore dunkel und leer.
    Da hob sie das Kaninchen hoch und setzte es auf ihre Brust, wo es sich ein wenig zurechtruckelte wie in einem Nest und in Kaninchenträume hinüberglitt. Draußen heulte der Wind, der ständig wachsende Wind, heulte sich zu einem Orkan heran, der für Vor-zwei-Monaten vorausgesagt worden war, hier aber erst jetzt ankam.
    Siri hörte ihn nicht mehr heulen. Sie schlief.
    Sie erwachte davon, dass draußen etwas krachend zu Boden stürzte, und fuhr hoch. Ein Baum; es musste ein Baum gewesen sein. Sie sah, wie sich die Äste der übrigen Bäume in der blassen Morgendämmerung bogen, wie sie sich krümmten unter dem Sturm, sie sah eine Plane vorbeisegeln, vielleicht die Plane eines Bootes, sie sah den Sturm Hände voll frisch gemähtem Herbstheu in der Luft verteilen.
    Die Fenster der Kirche, die drei neuen und die drei alten, klirrten gegen die Steinwände, und die Tür klapperte in ihren Angeln. Siri brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass dies kein Traum war.
    Der Sturm, der Orkan da draußen, war wirklich.
    Und zugleich fiel ihr der Direktor ein. Sie hatte ihn völlig vergessen.
    Wenn er da gewesen war, war er längst wieder gegangen, Warten Sie , hatte sie auf den Zettel geschrieben, Warten Sie , aber kein Mensch wartete die ganze Nacht. An diesem Morgen würde er zurückfahren in die Stadt, zu seiner Musik – vermutlich saß er längst im Auto, vermutlich hatte er das Dorf längst hinter sich gelassen. Sie würde Lena fragen, ihn anrufen … aber er hatte ihr etwas geben wollen … und wenn er noch da war?
    Sie würde hingehen, an der größten der Datschen klopfen. Sie wollte nicht. Es war so einfach, zu sagen: Oh, jetzt

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