Friedhofskind (German Edition)
Datsche zurückzukehren. Sich nicht im Dorf blicken zu lassen.
Und obwohl Lenz froh darüber war, dass Siris Vater wieder fort war, nahm er es ihm doch auf eine gewisse grundlegende Weise übel. Ein Vater, der glaubt, seine Tochter wäre mit einem Mörder liiert, sollte so lange nach ihr suchen, bis er sie fand, sollte so lange in einer Kellerwohnung warten, bis sie wiederkam. Hätte er länger gewartet, wenn es Iris gewesen wäre?
»Lass doch«, sagte Siri. »Wir sind ihn los. Das ist gut so. Ich werde ihn anrufen und ihm sagen, dass er sich nicht einzumischen hat. Er kann mich nicht zwingen, nach Berlin zurückzukommen. Es ist lächerlich. Ich bin nicht mehr das schwache kleine Mädchen, das nichts alleine hinbekommt. Das am Rand sitzt, während die anderen auf dem Fußballfeld spielen.«
»Nein«, sagte Lenz und lächelte. »Wir haben am Rand unser eigenes Spiel erfunden. Was sollen wir auf dem Feld?«
Und dann glitten sie zurück in ihren merkwürdigen Alltag, Siri baute die Fenster nach und nach ein, und Lenz ließ den Herbst ein, der schon vor dem Friedhofstor wartete, und half ihm, Beete und Sträucher neu zu färben. Sie klebten enger aneinander als zuvor, jetzt, da er wusste, wer sie war.
Und der Umbrich und Frau Hartwig und all die anderen sahen sie mit mehr Distanz in den Augen an als je zuvor. Sie stellten sich manchmal neben die Leiter, auf der Siri arbeitete, wenn sie die einzelnen Teile der Fenster einfügte, versuchten, ein Gespräch anzufangen – über Siris Vater, über die Tatsache, dass er auch Iris’ Vater war, sie erinnerten sich … Siri nickte nur und beschäftigte sich weiter mit Glas und Blei und Rahmen. Manchmal stand Kaminski eine Weile zwischen den Gräbern herum, mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen, und starrte Siri an, als könnte er sie durch seine Blicke dazu bringen, sich zu ihm umzudrehen. Sie wandte sich nur einmal um, und zwar, um ihn nach der Uhrzeit zu fragen – und er war so perplex, dass er sie ihr sagte, sich umdrehte und ging.
Lenz lachte drüben bei seinen Rosenbüschen leise in sich hinein.
Sie lachten viel in diesen Tagen.
Sie machten ein Spiel daraus, durch die Wälder und Wiesen zu wandern, sich gegenseitig von ihrer Kindheit am Rande des Spielfelds zu erzählen, von all den kleinen und kleinsten unglücklichen Begebenheiten, und darüber zu lachen. Je trauriger ihre Geschichten waren, desto mehr lachten sie. Es war kein bitteres Lachen, es war laut und hell.
Iris rannte neben ihnen her, wenn sie spazieren gingen.
Als Lenz ihr erzählt hatte, wer Siri war, hatte sie nur genickt. »Natürlich«, hatte sie gesagt. »Natürlich ist sie meine Schwester. Wussten das denn nicht alle?«
Sie wären auch wieder mit dem alten Ruderboot hinausgefahren, zu zweit oder zu dritt, aber Lena hatte gesagt, es habe ein Leck und der Direktor müsse es erst flicken. Es lag jetzt neben dem Hafen an Land, auf dem Bauch. Lenz konnte kein Leck in seinem hölzernen Körper entdecken.
Der Direktor und Lena luden sie auch nicht mehr zum Abendessen ein, obwohl Lena jedes Mal winkte, wenn sie sie sah.
Manchmal saßen sie zu dritt in der Kellerwohnung, Siri arbeitete an den Fenstern, und Lenz und Iris sahen ihr zu, sie hatten zwei Kissen vom Bett herübergeholt, als Sitzgelegenheiten zwischen dem Durcheinander aus Messern und Zangen und Scheren und Gläsern und Bleistücken, und wenn Frau Hartwig durchs Kellerfenster sah, winkte Lenz ihr, was sie dazu brachte, den Kopf zu schütteln und sich zurückzuziehen.
Es war einer der sonnigeren, noch sommerwarmen Tage, als Lenz alleine zur hartwigschen Wohnung kam und Siri nicht dort war. Er setzte sich auf die Bettkante und wartete auf sie, und es war reiner Zufall, dass die tief stehende Herbstsonne durchs Fenster auf das alte rote Telefon fiel.
Lenz stand auf und streckte die Hand danach aus, ohne es eigentlich zu beabsichtigen; es geschah von selbst. Er fragte sich, ob er eine Wahlwiederholungstaste finden konnte, um herauszufinden, mit wem Siri so häufig telefonierte. Oder telefoniert hatte , denn sie schien es nicht mehr zu tun.
Es gab einen Mann, einen Mann, mit dem sie entweder verheiratet oder nur liiert war, einen Mann in der Stadt.
Es gab einen Mann, aber es gab keine Wahlwiederholungstaste. Es gab überhaupt keine Tasten, das Telefon war so alt, dass es eine Wählscheibe besaß. Er hob den Hörer, nur probeweise, und hielt ihn ans Ohr. Der Hörer war leicht konkav, er hörte etwas rauschen und verstand
Weitere Kostenlose Bücher