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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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schönes Gesicht mit den Steinaugen, sie fand ein paar winzige Sommersprossen über seinen Wangenknochen und ein paar weiße Haare in seinen Augenbrauen und das Kind in seinem Blick, das sich dort versteckte, unsicher, ob es noch gebraucht wurde. Sie wollte vieles und Rationales denken. Wer war Carla Berg? zum Beispiel und: Ist alles anders, als ich hoffe?
    Aber es gelang ihr nicht. Sie dachte nur: Bitte, bitte halt doch die Zeit an, damit es niemals Abend wird, niemals neun Uhr und niemals Winter. Schließlich nahm er ihren Finger von seinen Lippen.
    »Geh nicht«, sagte er. »Nie.«
    »Wenn ich sterbe«, sagte sie gedankenverloren, »irgendwann einmal, später. Irgendwo. Holst du mich? Begräbst du mich? Auf dem Friedhof hier, bei der alten Kirche? Ich habe eine Notiz gemacht, in meinen Unterlagen für den Kirchenverein. Dass ich das möchte. Irgendwann dort begraben werden …« Sie lachte leise.
    Er lachte nicht. Er setzte sich abrupt auf und packte sie an den Schultern, beinahe grob, schüttelte sie wie eine Schlafende, die er wecken wollte.
    »Sag das nicht!«, flüsterte er. »Sag das nie wieder! Du hast das nie gesagt, verstanden? Ich habe es nie gehört. Wir haben nie über das Sterben gesprochen, nicht über dein Sterben, nie.«
    »Was … was ist denn los?«, fragte Siri verwundert. Er hielt sie noch immer fest, obwohl er jetzt aufgehört hatte, sie zu schütteln.
    Dann ließ er sie los und sah weg, sah in Richtung Meer.
    »Das haben die anderen beiden auch gesagt«, murmelte er. »Und dann waren sie auf einmal tot. Iris. Und die Frau, die keiner wirklich kannte. Ein Badeunfall, haben sie gesagt. Ich erinnere mich nicht.«
    »Frau Berg«, flüsterte Siri.
    Lenz nickte, stand auf und klopfte sich das trockene Gras von der grauen Arbeitshose.
    Sie stand ebenfalls auf.
    »Heute Abend«, sagte sie ganz leise, »werde ich in Frau Hartwigs Kellerwohnung an der Skizze arbeiten. Ich komme später her. Nachts. Oder morgens. Ich denke, morgens … wir können zusammen frühstücken.«
    »Gerade heute Abend? Du musst gerade heute Abend an dieser Skizze arbeiten? Ich verstehe nicht … du kannst es morgen früh tun, bei Licht … ist es denn plötzlich so eilig?«
    »Nein. Nein, eilig ist es nicht. Ich denke nur … ich muss ein wenig allein sein.«
    »Ich dachte«, murmelte er, »wir versuchen alle, weniger allein zu sein.«
    Die Schatten in der hartwigschen Kellerwohnung waren kühl und herbstlich. Siri stand lange an dem kleinen Fenster, fröstelnd, den zu dünnen Regenmantel um die Schultern gelegt.
    »Ich habe keine Uhr«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich weiß überhaupt nicht, wann es neun sein wird.«
    Die Minuten fielen auf den dunklen nadelbaumbestandenen, ordentlichen Garten hinab wie Schnee. Irgendwann würde es neun werden, egal, ob man eine Uhr hatte oder nicht, und dann würde sie erfahren, was Aljoscha ihr hatte sagen wollen und was sie nicht wissen wollte.
    Sie kochte Tee auf dem Gasherd in der Ecke, hockte sich auf den Boden vor die Skizze des letzten Kirchenfensters.
    Es war auch, dachte sie, der Direktor gewesen, der ihr gesagt hatte, was auf dem letzten Fenster zu sehen war, die Kreuzigung. Siri mochte die Geschichte nicht, und alles in ihr sträubte sich dagegen, ein Kreuz zu zeichnen. Es war ein zu oft gezeichneter Gegenstand, eine zu oft gezeichnete Szene, der sterbende Jesus, in Millionen, Milliarden von Kirchen war er zu sehen, mit oder ohne Wunden, real oder abstrakt, leidend, vergebend, zuversichtlich, verzweifelt. Es gab keine Variante, die es nicht gab. Sie konnte das Kreuz auf den Kopf stellen, aber auch das hatte vermutlich schon jemand getan, Baselitz höchstwahrscheinlich. Und die Verbindung zum Dorf, die ihr bei den übrigen Bildern so leicht gefallen war, wollte sich in ihrem Kopf nicht ziehen lassen. Vielleicht, dachte sie, weil sie Angst vor ihr hatte. Es gab genug Tode in diesem Dorf.
    Da war ein Körper auf ihrer Skizze, ein unbestimmter Körper, und er hing an etwas, aber es schien kein Kreuz zu sein. Sie nahm den Stift in die Hand und sah zu, wie vor ihr Striche entstanden, hastig hingeworfen, ohne nachzudenken jetzt, sie zeichnete frei, was sich zeichnen ließ, und es war, sie merkte es jetzt, die Kirche. Nicht die Kirche von außen. Es war die Kirche, die selten besuchte Kirche, von innen.
    Sie erkannte die Orgelempore, auf der Iris gestanden hatte. Die Orgelempore, von wo aus man das ganze Dorf sehen konnte, wenn es sich denn eines Tages in seiner Gesamtheit in

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