Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
hörst … mein Kind, mein kleines Mädchen! Komm zurück zu mir! Komm! Zurück! Zu mir!«
    Er murmelte noch etwas, etwas Unverständliches. Und dann fiel die Haustür ins Schloss.
    Lenz spürte Siri neben sich stärker zittern. Nein, es war kein Zittern. Ihre Schultern zuckten.
    »Siri?«
    »Ja«, sagte sie, ihre Stimme erstickt und seltsam. »Ich …«
    »Weinst du?«
    »Ich bin nicht sicher«, flüsterte sie, und da hörte er, dass sie lachte. »Ich … weine und ich lache. Es ist alles durcheinander. Es ist so verrückt. Mein Vater … er hat den Kartoffelkeller vergessen, ein Glück … er muss ihn doch kennen, von damals … stell dir vor, er hätte die Luke angehoben!«
    Sie brach ab, ihre Worte ertränkt in einem Meer aus unterdrücktem Kichern und anfallsartigem Schluchzen. Lenz stemmte die Luke hoch, und sie krochen hinaus.
    Dann standen sie zusammen am Küchenfenster. Siris Vater war dabei, über das Eisentor zu klettern. Er war zu alt, um über Eisentore zu klettern, und er trug die falschen Sachen, er trug ein Jackett und eine zu feine Stoffhose. Und Siri lachte wieder, aber zugleich lief eine Träne über ihre Wange.
    »Er ist wirklich gekommen, um mich zu suchen«, sagte sie leise. »Das hat er noch nie getan.«
    »Du kannst immer noch zu ihm gehen. Zieh dich an und renn. Du holst ihn ein.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er kann mich nicht finden. Ich bin ihm längst verloren gegangen.«
    Und auf einmal hing sie an seinem Hals wie ein Kind.
    »Was hat der Mann an sich, dass er meinen Töchtern den Kopf verdreht?«, flüsterte sie. Und jetzt lachte sie wieder. »Lenz Fuhrmann. Der große Weiberheld, was?«
    Sie zog ihn mit sich in den leeren Raum, in dem die Kaninchen sie fragend ansahen: Was war das für merkwürdiger Besuch? Er kniete nieder und streichelte zwei von ihnen, und Siri sagte: »Jetzt lass doch mal die Kaninchen«, und zog ihn weiter, zu der Matratze. Sie ließ sich darauffallen und lachte noch immer.
    »Lass uns nur noch lachen«, sagte sie. »Über alles. Es ist zu … zu abstrus. Mein Vater … verdammt … ich habe ihn immer bewundert, ich wollte ihm immer gefallen, immer von ihm … gesehen werden. Wie alt er geworden ist! Wie alt und wie lächerlich in seinem Jackett! Er versucht noch immer, wichtig zu sein, dabei ist er seit der Wende nicht mehr wichtig. Und er war es nie so richtig, ich meine, was hat er schon gemacht? Den Holzhandel mit irgendeinem afrikanischen Land beaufsichtigt … haha … er war nicht mal politisch. Und er versteht wirklich nichts davon, über Gartentore zu klettern! Ein Clown im Stadtanzug. Ich meine, natürlich ist alles tragisch … er sieht nicht nur Iris hier, in seiner Erinnerung, er sieht vermutlich auch unsere Mutter … wie sie da draußen im Liegestuhl liegt und hinter ihrer Sonnenbrille liest und in ihre eigene Welt versunken ist … er hat das nie verwunden, dass sie ihn verlassen hat …« Sie lachte noch immer. »Schau dich um! Tote Kinder, tote Mütter, tote Fischer, tote Väter … Schneestürme und Friedhöfe …« Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, aber jetzt waren es Lachtränen.
    »Wenn die Tragik einen gewissen Punkt erreicht«, sagte sie, »kann man gar nichts anderes mehr tun, als zu lachen.«
    »Ja«, sagte er ernst, neben ihr auf der Matratze. »Lass uns lachen. Lass uns lachen, bis der Sommer vorbei ist. Denn dann gehst du.«
    »Komm her«, flüsterte sie. »Komm zu mir. Es ist viel zu kalt ohne Kleider.«
    †   †   †
    Der alte Herr Weiß fuhr nach zwei Tagen unverrichteter Dinge wieder ab.
    Er hatte in Frau Hartwigs Ferienwohnung geschlafen, in Siris Bett.
    Er hatte sich über die Muscheln auf den Fensterbrettern gewundert. Seine Tochter hatte nie Muscheln gesammelt. Die Muscheln waren auch alle gleich, alle gleich weiß und makellos. In der obersten Schublade der Kommode fand er die Packung aus dem Dekorationsartikelgeschäft, die die Muscheln enthalten hatte. Es gab auch eine Vase, untypisch kitschig für Siri, auf deren Boden noch das Preisschild klebte, genau wir auf dem Teeservice. Was hatte Siri hier nur für ein Spiel gespielt?
    Er hinterließ seiner Tochter einen Zettel, auf dem er sie bat, sich bei ihm zu melden.
    Er mache sich, stand auf dem Zettel, noch immer Sorgen.
    Es war nicht einmal schwer gewesen, dachte Lenz später, Siris Vater nicht zu begegnen.
    Es hatte völlig ausgereicht, ausgedehnte Spaziergänge im Wald zu machen und erst spätabends zur

Weitere Kostenlose Bücher