Friedhofskind (German Edition)
der Kirche versammeln sollte. Auf der Skizze waren sie da, sahen von den Bänken empor, streckten ihre Hände nach den schwebenden Tönen der Orgel, die das kleine Mädchen dem Instrument entlockte, jenes kleine blondlockige Mädchen, das sie alle geliebt hatten, ohne es auszusprechen. Sie sah die Gesichter unter ihren Fingern entstehen: Herrn Umbrich mit seiner blauen Glasscherbe in der Hand, Frau Hartwig, den Kopf lauschend schief gelegt, Werter, Kaminski, den Tapirhundemann und seine Frau, die Kinder und ihre hysterische Mutter, die beiden Fischer – sie alle standen dort und streckten die Hände aus, auf der Suche nach Erlösung. Manche fehlten. Die Toten. Man sah ihre Schatten, nur ihre Schatten, auch sie streckten sich nach der Orgelempore.
Und das Kreuz, an dem der Körper hing, war im Grunde nichts als einer der Schrägbalken, der die Orgelempore hielt. Das Gesicht des Gekreuzigten lag im Schatten. Er hatte kein Gesicht. Er war sie alle. Er vereinigte ihre Ängste und ihre Hoffnungen, ihre Ziele, ihre Saatkartoffelzüchtungen und ihre Kuchenrezepte. Ihre Gerüchte, ihre Unterstellungen, ihr geheimes Begehren und ihre oberflächliche Sachlichkeit. Ihre Ohnmacht einer Welt draußen gegenüber, die nicht hereinkonnte und zu der sie nicht hinauskonnten.
Das Dorf, auf seiner Suche nach einem Ende der ewigen Schatten – das Dorf kreuzigte sich selbst. Zur Linken und Rechten gab es zwei weitere Figuren, eine kleine und eine große, ein Mädchen und eine Frau, Schwestern, die alldem nur zusahen … oder vielleicht mehr Teil des Ganzen waren, als sie ahnten.
Siri ließ sich zurück auf die Knie fallen, den Bleistift in der zitternden Hand, und merkte, dass sie keuchte, als wäre sie gerannt.
Sie war ganz nah, in ihren Gedanken ganz nah an Iris’ Tod und Carla Bergs Tod und an dem Beinahetod von Siri Weiß, die jemand hatte loswerden wollen, nur um sie dann mit Frau Henning zu verwechseln. Ganz nahe, ganz nahe … sie musste nur noch ein wenig weiterdenken, das Bild, das ihre eigenen Hände geschaffen hatten, ein wenig näher ansehen … es gab etwas, das sie übersah, sie wusste es. Aber solange sie die Bleistiftstriche auch anstarrte, sie fand es nicht. Nur ihre Augen begannen zu tränen.
Schließlich schob sie den Skizzenblock weg und stand auf. Ihre Knie schmerzten.
»Ich werde dieses Fenster machen«, flüsterte sie. »Ich werde es machen und es einbauen, und danach werde ich wissen, was es bedeutet. Wenn ich in der Kirche stehe und es ansehe.«
Sie sprang auf, und der Stift zerbrach in ihren Händen. Sie ließ die Stücke fallen, unachtsam – ihre ganze Kunst bestand aus zerbrochenen Stücken: Glasstücken, Bleistücken, Stücken von Licht, die durch fehlende Stücke in Mauern fielen.
Draußen war es jetzt vollkommen dunkel. War es schon neun?
Auf einmal konnte Siri nicht länger warten.
»Er kommt nicht«, sagte sie laut. »Der Direktor kommt nicht. Es ist etwas dazwischengekommen, etwas mit Lena und der Kleinen, oder er hat es sich anders überlegt, er hat eingesehen, dass es besser ist, wenn ich nicht erfahre, was Aljoscha mir sagen wollte.«
Sie nahm ihren Mantel, doch die Tür zur Kellerwohnung ließ sie unverschlossen. Wenn er doch noch kam, dachte sie, konnte er hineingehen. Draußen war es kalt, ein Herbstwind pfiff um alle Ecken und brachte die Büsche dazu, sich zu ducken und zu sträuben wie ruppige Straßenkatzen.
Sie heftete ein Stück Papier an die Tür. Es besaß keinen Adressaten, aber das schien gleichgültig zu sein, niemand außer dem Direktor würde in dieser windigen Nacht vor der Tür zur Kellerwohnung stehen.
Falls Sie noch kommen. Ich bin nur spazieren. Warten Sie drinnen, wo es warm ist. Siri Weiß.
Es zog sie zur Kirche.
Sie wollte den Ort sehen, an den das sechste und letzte Fenster gehörte. Sie wollte die Steine unter ihren Händen spüren, die das Fenster begrenzten, sie wollte das Schneehuhn auf Iris’ Grab um Rat fragen. Sie wollte Carla Berg suchen und Jens und Charlotte Fuhrmann, und vielleicht, dachte sie, spräche ja einer mit ihnen, einer aus der Armee der Schatten.
Diesmal hatte sie keine Angst, als sie durch das Friedhofstor trat. Es war nur ein Tor, und niemand war da; sogar Kaminski hatte es aufgegeben, ihr nachzuschleichen – das Spiel war nicht mehr neu und nicht mehr aufregend; auch er war nichts als ein kleiner Junge.
Sie ließ sich den Wind in den Kragen wehen und atmete die frische Nachtluft tief ein.
Sie würde noch kälter werden,
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