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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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erst nach einer Weile, dass es sein eigenes Blut war – er hörte sein Blut wie in einer Muschel, in der angeblich das Meer rauscht. Er wählte eine zufällige Nummer, irgendeine: 11 27. Das Rauschen veränderte sich nicht. Und dann folgte er dem Kabel des Telefons. Es hing auf den Boden hinunter und schlängelte sich unters Bett, als wollte es sich vor ihm verstecken. Er kniete sich hin und fand das Ende des Kabels. Es lag lose vor der hinteren Wand. Lose? Lenz zog daran und hielt den Stecker in der Hand, der niemals eingesteckt gewesen war. Da war keine Telefondose unter dem Bett. Er ging zurück zum dem roten Telefon, nahm den Hörer wieder ab und lauschte hinein.
    Nichts.
    »Das rote Telefon«, sagte er laut, »ist tot. Das rote Telefon war immer schon tot. Sie hat nie mit irgendwem telefoniert.«
    »Was hast du denn gedacht?«, fragte Iris neben ihm, strich ihr blaues Kleid glatt und baumelte mit den Beinen. Sie saß auf dem Bett. Er zuckte zusammen, er hatte sie, wie meist, nicht kommen gehört.
    »Es gibt keinen Mann in Berlin, mit dem sie telefoniert hat«, sagte sie und grinste.
    »Aber Frau Hartwig hat überall herumerzählt, sie hätte gehört …«
    »Sicher«, sagte Iris. »Das hat sie. Sie hat mit dem Telefon gesprochen. Es gab nur nie eine Antwort am anderen Ende der Leitung. Frau Hartwig wird gedacht haben, sie spricht in ihr Handy.«
    »Woher weißt du das?«, fragte Lenz misstrauisch.
    Iris grinste. »Ich denke bisweilen mit«, sagte sie und sprang vom Bett.
    »Und warum … warum hat sie das getan? Mit einem toten Telefon gesprochen?«
    Iris stellte sich ganz dicht vor ihn, so dicht, dass ihre Nasen sich beinahe berührten und ihr Gesicht vor seinen Augen verschwamm.
    »Warum sprichst du mit mir?«, flüsterte sie. »Warum sprichst du mit den Toten auf dem Friedhof, die nie antworten? Warum spricht Annelie mit ihren Blumen? Das tut sie, ich habe sie gehört. Warum spricht irgendwer überhaupt mit irgendwem?«
    In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Lenz fühlte sich ertappt, er saß noch immer auf dem Boden neben dem Kabel, das nirgendwohin führte, zwischen den letzten unbenutzten blauen Glasplatten. Iris war fort.
    Einen Augenblick lang starrte Siri ihn an, dann wanderte ihr Blick zu dem Telefon und dem unter dem Bett hervorgezogenen Kabel, und sie zuckte die mageren Schultern.
    »Wir versuchen alle nur«, sagte sie, »ein bisschen weniger allein zu sein.«
    †   †   †
    Und dort oder dann, in jenen Herbsttagen, hätte die Geschichte enden sollen.
    Die letzte Seite wäre geschrieben, der Ausgang könnte offen bleiben. Der Versuch, weniger allein zu sein, würde vollkommen ausreichen, um einen Schluss zu bilden.
    Vielleicht, dachte Siri, während sie am Fenster der Datsche stand, vielleicht ließe sich noch ein Sonnenuntergang einfügen, ein nebliger, nicht roter Sonnenuntergang, vielleicht ein letzter Kuss, eine letzte private Dunkelheit, eine letzte Bemerkung über die Kaninchen. Ein letzter Traum mit möglicherweise wegweisender Bedeutung, ein letzter leiser melancholischer und dennoch hoffnungsfroher Satz – oder keiner.
    Romane enden so. Romane für Frauen wie Iris’ Mutter, Frauen mit Sonnenbrillen, Frauen mit einer Neigung zu Kopfweh und französischen Kinofilmen, was eventuell auf dasselbe hinauskommt.
    Sie hätte enden können, die Geschichte, und es mag empfohlen werden, sie enden zu lassen. Das Buch zu schließen. Den Rest dem Regal anzuvertrauen. Regale sind geduldig.
    Aber natürlich waren all diese Gedanken Unsinn. Nichts endet im Leben, auch nach dem Tod nicht, alles geht immerzu und gnadenlos weiter.
    Das Glück des Nicht-allein-Seins war, Siri wusste es, ein vorübergehendes. Die Frage nach der Wahrheit oder der Vergangenheit war in den Hintergrund gerückt, war, im Grunde, im Hintergrund verschwunden, zwischen Wellen und Hügelland, zwischen Wald und Sonne auf Friedhofsmauersteinen, irgendwo in der schattigen Erde unter den neuen Kirchenfenstern, irgendwo zwischen den Tönen der alten Orgel auf ihrer holzwurmstichigen Empore. Aber sie würde wieder auftauchen, diese Frage.
    Manchmal wachte Siri nachts auf und spürte Lenz neben sich, und ihr wurde schwindelig vor Hoffnung, alles könnte doch so bleiben, und zugleich schwindelig vor Angst vor dem Moment, in dem es zerbrechen würde. Manchmal sah sie den Regenmantel an, den sie nicht mehr trug, obwohl es kälter wurde.
    Manchmal sah der Regenmantel sie an.
    Und dann lehnte der Direktor am Tor zwischen den

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