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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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endet.« Und zum ersten Mal war ihre Stimme wirklich achtzig Jahre alt.
    »Ich … ich werde Tee machen … wir müssen den Sturm abwarten … Tee …«
    »Lass nur, wir machen das«, sagte Lenz. »Ich möchte nur einen Augenblick atmen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht einmal ganz wach«, sagte er dann, leiser. »Ich habe nicht geschlafen, fürchte ich. Ich war zu allein, in der Datsche draußen. Hast du geschlafen?«
    Siri nickte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich hätte beinahe sehr, sehr gut geschlafen«, sagte sie. »Für immer.«
    Er hob eine Augenbraue. »Was –?«
    »Gas«, sagte Siri. »In der Kellerwohnung. Ich war nur nicht dort.« Sie sah ihm in die Augen, grau, grau, grabsteingrau.
    »Ein Glück«, sagte Lenz.
    »Ein Glück?«
    »Ja, sicher, ein Glück … wo warst du denn?«
    Sie zuckte die Schultern. »Das ist unwichtig. Aber jemand anderer war da.«
    War da etwas wie Erschrecken in seinem Blick? Sie konnte das Grau nicht deuten. Steine sprechen selten.
    »Der Direktor«, sagte Siri. »Er wollte mit mir reden. Er wollte mir etwas sagen. Ich habe ihn gefunden. Auf meinem Bett. Er ist tot.«
    Lenz schüttelte langsam den Kopf. »Nein … nein … du denkst … du denkst, ich … nein.« Er sprang auf. »Siri, das ist nicht wahr! Ich lag alleine auf unserer Matratze in der alten Datsche, die ganze verdammte Nacht!«
    Siri nickte. »Und wer kann das bestätigen?«, fragt sie müde.
    Er zuckte die Schultern. »Bist du die Polizei? Glaubst du mir nicht? Bestätigen … die … die Kaninchen.«
    »Tee«, sagte Annelie, abwesend, als hätte sie das Gespräch nicht einmal mitbekommen – als hätte sie begonnen, in eine eigene, nicht-mehr-zuhörende Welt zu rutschen, in der sie nicht einmal mehr Lenz schützte, nicht einmal mit Worten. Vielleicht wusste sie, dass es keinen Zweck mehr hatte. »Tee … ich komme schlecht hoch … wollt ihr nicht in die Küche gehen und Tee kochen? Es ist so kalt, seit es stürmt.«

15
    Der Tee in seiner Tasse war längst kalt.
    Er sah sein Spiegelbild darin, es war müde und verzerrt, und er erschlug es mit einem Stück Zucker und rührte es mit einem Löffel weg, nur, um etwas zu tun. Sie saßen seit Stunden hier, gelähmt, gefesselt, eingesperrt vom Sturm.
    Annelie war in ihrem Korbstuhl eingeschlafen. Sie schlief so still, dass Lenz erschrak, doch dann sah er, wie sich ihre Brust beim Atmen sachte hob und senkte, und das beruhigte ihn wieder.
    Er hatte genug vom Tod. So sehr genug, dass er schreien und mit Gegenständen werfen wollte, aber er war zu müde. Er hatte genug vom Tod, und er war unendlich müde – widersprach sich das nicht?
    »Ich gehe«, sagte Siri. »Telefonieren. Der Wind hat sich gelegt, schau.«
    Sie hatten lange nicht gesprochen, nur gesessen und aus dem Fenster in den Sturm hineingesehen.
    Draußen sanken die letzten Blätter zu Boden wie die letzten Konfettiflocken auf einer Feier, nachdem die Gäste gegangen sind und die Musik abgestellt ist.
    »Ja«, sagte Lenz, »geh.«
    Er sagte nicht: Bleib. Er sagte nicht: Ich komme mit. Er war so müde, so müde. Sie hätte ihn nicht dabeihaben wollen, sie hätte nicht bleiben wollen, sie hatten eine durchsichtige Wand in den Raum geschwiegen, Stunde um Stunde war sie gewachsen, und jetzt war sie eigentlich nicht einmal mehr durchsichtig. Er sah Siri nur sehr verschwommen, als sie aufstand und tatsächlich ging.
    Er sah sie verschwommen die Tür öffnen und über den Rasen davonwandern, zwischen den Resten des Sturms, sah sie über große, abgebrochene Äste steigen und um einen umgestürzten Kirschbaum herumgehen. Ein Trümmerfeld, dachte er, Annelies Garten war ein Trümmerfeld – lauter Trümmer eines langen Lebens voller Licht und Blumenerde und hoffendem Grün. Die Zeit, die sie noch hatte, würde nicht reichen, all dies wieder aufzubauen, neu zu pflanzen, wachsen zu sehen.
    In den kalten Tee fiel etwas wie ein Regentropfen, es musste aus seinen Augen gekommen sein. Er wischte es weg.
    »Alles endet«, flüsterte er. »Annelie, alles endet. Dir kann ich es sagen, denn du schläfst, und wenn alles endet, kann man ohnehin alles sagen … da ist eine Lücke. In der Nacht, in der letzten Nacht. Ich weiß, dass ich wach lag, weil ich allein war. Nicht einmal Iris war da. Ich weiß, dass ich aufgestanden bin, dass ich draußen herumgelaufen bin, um mich müde zu laufen, mir die Gedanken aus dem Kopf zu laufen … und irgendwann lag ich wieder auf der Matratze, unter der Decke, und

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