Friedhofskind (German Edition)
an. »Es endet nicht! Ich habe vor, noch eine Weile weiterzuleben!«
»Natürlich –«
Sie wollte ihn anschreien, ihm Fragen stellen, ihn beschuldigen, aber die Fragen blieben in ihrer Kehle stecken. Und Lenz zog sie mit sich auf die Beine.
»Wir müssen nach Annelie sehen!«, rief er. »Ich weiß nicht, ob sie allein zurechtkommt im Sturm … ihr Garten … sie würde alles für ihren Garten tun … komm!«
Er nahm Siri an der Hand, er merkte nicht, wie sie sich sträubte, und sie hatte auch nicht viel Zeit, sich zu sträuben, denn nun nahm der Wind sie mit, nun bewegten sie sich in seine Richtung; sie mussten kaum die Füße bewegen, um vorwärtszukommen. Es war wie Fliegen, ein kindisches Glücksgefühl. Die Gefühle schienen in diesem Sturm in Sekunden zu kommen und zu gehen, und der Orkan bündelte sie wie ein Brennglas: Übermut, Entsetzen, Trauer, Wut, Misstrauen, Glück.
Sie wehten den Hügel zu dem blauen Haus hinauf wie zwei Federn. Einmal glaubte Siri, vor ihnen das blaue Kleid zu sehen, das auf dem Wind schwebte, aufgebläht wie ein Ballon. Der Wind spürte Iris’ Gewicht nicht, sie flog. Aber als Siri genauer hinsehen wollte, war sie verschwunden.
Sie fanden Annelie hinter ihrem Haus im Garten, und Siri erschrak: Annelie versuchte wirklich, ganz allein einen Topf mit einem Oleander darin über die Wiese zu zerren, um ihn vor dem Sturm zu retten. Ihr weiter heller Rock schlug um sie wie ein Segel, der Sturm hatte ihr weißes Haar zerzaust, sodass man die kahlen Stellen darin sah, ihr Mantel war an einer Seite zerrissen und umgab sie wie ein Stofffetzen, den ein Kind um eine Puppenstubenpuppe gewickelt hat, Annelie war eine Puppe, so winzig und belanglos im Sturm wie alles andere. Sie sah auf, als Lenz und Siri sie beinahe erreicht hatten, und da war etwas wie Erstaunen in ihrem Blick. Als könnte sie nicht begreifen, was der Sturm mit ihrem Garten tat, diesem Paradies, dem einzigen Rückzugsort vor der Dunkelheit, den es im Dorf gab. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel, zusammen mit dem Oleander und seinem Topf, und Lenz hob sie auf. Unter ihrem rechten Auge breitete sich ein dunkelroter Bluterguss aus, man sah die einzelnen Äderchen darin.
»Lenz«, sagte Annelie – man hörte sie kaum im Wind –, »Lenz. Ich fürchte, ich falle nicht zum ersten Mal …« Dann sah sie Siri an, erstaunt, als könnte sie nicht begreifen, dass auch Siri in diesem Sturm den Weg zum blauen Haus heraufgekommen war, um nach ihr zu sehen.
»Vergiss den Oleander!«, rief Lenz. »Du musst ins Haus. Annelie, es wird vielleicht noch schlimmer!«
»Dann lass es doch schlimmer werden!«, rief Annelie. »Ich rette meine Pflanzen. Man rettet immer, was zu retten ist!«
Lenz schüttelte den Kopf, packte sie unter den Achseln und zog sie in Richtung des Hauses. Siri öffnete die Wintergartentür, beinahe musste Lenz Annelie hindurchtragen. Drinnen setzte er sie auf einen der beiden Schaukelstühle. Auch hier war es still. Es war still inmitten von Töpfen. Annelie musste schon ein Dutzend von ihnen ins Haus geschleift haben.
»Du bleibst jetzt hier sitzen«, sagte Lenz. »Wir holen den Rest.«
Annelie sah zu ihm auf, erschöpft, und lächelte. »Ja«, sagte sie. »Ja, vielleicht.«
Es schien Siri Stunden zu dauern, bis sie Annelies Töpfe mit den exotischen Pflanzen in Sicherheit gebracht hatten, es war eine unsinnige und gefährliche Aufgabe, der Garten warf mit brechenden Ästen. Aber Lenz stellte nicht eine Sekunde in Frage, was sie taten. Es war so unsinnig, dass sie lachten.
Und schließlich schlossen sie die Verandatür zum letzten Mal hinter sich und standen schwer atmend in der Stille hinter den gläsernen Wänden. Es gab noch einen Schaukelstuhl. Lenz zog sich einen Hocker heran.
Einen Moment sprach niemand. Sie saßen da, in einem Urwald aus Töpfen mit Oleander, Hibiskus, Trompetenblumen … der Sturm hatte die Blüten der kleinen Bäume mitgerissen, und viele von ihnen waren geknickt; ein Bild des Jammers, und doch alles, was man hatte retten können. Die übrigen Bäume und Sträucher in Annelies Garten zerbrach der Sturm noch immer wie Porzellan.
Lenz fand eine einzige, letzte rote Hibiskusblüte auf der Erde, hob sie auf und legte sie in Annelies Hand.
Sie war so rot wie der Bluterguss unter ihrem Auge.
Annelie hielt Lenz’ Hand einen Moment fest, einen kurzen Moment nur, und drückte sie, doch da war keine Kraft mehr in ihrem Händedruck.
»Alles endet«, sagte sie. »Mein Junge. Alles
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