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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zeichnete hektische Striche, zeichnete den Direktor als Schatten, zeichnete Lena mit dem Kind im Arm. Aber Lena war kein Schatten. Sie lebte. Und jemand würde ihr sagen müssen, dass der Direktor es nicht mehr tat.
    Als sie das dachte, merkte Siri, dass sie doch weinte. Sie weinte Lenas Tränen. Sie wischte sie weg, legte die Skizze unter einen fertigen Teil des vorletzten gläsernen Bildes – die Totenerweckung – und schloss das Fenster. Sie musste jemandem sagen, was geschehen war. Sie musste die Kfz-Werkstatt erreichen, wo es ein Telefon gab. Sie wickelte ihren Regenmantel fest um sich, öffnete die Tür und kehrte zurück in den Sturm.
    Die Böen hatten nicht nachgelassen. Die Minuten, die Siri in der Kellerwohnung von Frau Hartwig verbracht hatten, erschienen ihr mit einem Mal unwirklich. Der Wind knickte weiter Bäume, der Himmel zerriss sich selbst weiter in graue Fetzen. Siri musste sich am Zaun festhalten, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Der Sturm hatte noch zugenommen.
    Die düstere Morgendämmerung dauerte an, doch in keinem der Fenster sah Siri Licht. Der Strom, dachte sie, natürlich, der Strom ist ausgefallen. Sie konnte gar niemanden anrufen, nicht einmal, wenn sie es bis zu Werters Werkstatt schaffte.
    Sie hangelte sich weiter am Zaun entlang. Sie wusste nicht mehr, wohin sie wollte.
    Und dann sah sie ihn . Er hockte auf dem Dach des dunklen Hauses und versuchte, die Schilfbüschel dort festzuzurren, die der Wind fortzureißen drohte. Das Schilf war alt, alt und schadhaft, und Siri sah, dass der Sturm an zwei Stellen bereits Löcher hineingerissen hatte. Dort bot ihm das Dach mehr Angriffsfläche, er griff mit seinen unsichtbaren, heulenden Fingern in die Lücken und riss mehr und mehr Schilf aus … und Lenz kniete auf der Schräge und arbeitete wie ein Besessener dagegen an. Sie sah ihn schwanken, sich wieder fangen, weiter mit Draht, Schilf und Wind ringen. Er wird fallen, dachte sie. Er wird fallen und sich da unten das Genick brechen … aber natürlich war das Dach für solch endgültige Dramatik nicht hoch genug.
    Sie ließ den Zaun los und begann, sich vorwärtszukämpfen, gegen den Wind an. Es ging nicht … es musste gehen … es ging. Sie erreichte den schmalen Pfad, der zwischen den Büschen und Hecken zu dem dunklen Haus der Fuhrmanns führte. Doch den Pfad gab es nicht mehr. Abgebrochene Äste versperrten ihn und machten das Durchkommen schwierig; die Sträucher schlugen mit ihren langen Zweigen um sich, schützende Hecken schienen sich selbst zu zerfetzen, Blätter peitschten Siri ins Gesicht, Dornen und Äste hinterließen schmerzende Striemen auf ihren Armen und in ihrem Gesicht. Sie kümmerte sich nicht darum.
    Sie schaffte es bis zum Haus, bis in den Garten. Wo waren die Kaninchen? Allesamt davongeweht in ein neues, kaninchenfreundlicheres Leben?
    »Lenz!«, schrie sie, so laut sie konnte, gegen den Sturm an. »Lenz!«
    Er sah hinab, den Draht in der Hand. »Siri! Geh rein! Geh irgendwo rein!«
    Sie schüttelte den Kopf. »Was tust du da?«
    »Ich versuche, etwas zu retten!«
    »Du wolltest es anzünden!«, schrie Siri. »Das Haus! Weil nie Licht hereinkommt! Und jetzt rettest du es?«
    Er hielt inne, zögerte. »Ja!«, rief er dann. »Man rettet doch immer alles, was zu retten ist!«
    Und dann arbeitete er weiter, dort oben, schwankend, sinnlos. Der Sturm war schneller als Lenz, er riss das Schilf rascher mit sich fort, als Lenz es festzurren konnte. Und dann verlor er dort oben das Gleichgewicht. Er schlitterte das Dach herunter und landete neben ihr im Gras, und der Sturm heulte noch immer, triumphierend jetzt.
    Lenz fluchte und stand auf, und einen Moment lang standen sie so, beide an den Vorgartenzaun geklammert, und sahen zum Dach hinauf. Das Schilf löste sich jetzt rascher und rascher und flog auf unsichtbaren Windflügeln davon, die Halme Schwärme winziger Vögel, die nach Jahren endlich ihre Freiheit erlangten.
    »Lass es fliegen!«, rief Siri. »Lass es fliegen, das Dach!«
    Lenz nickte. »Vielleicht kommt das Licht dann endlich durch.«
    Er sah Siri an und lächelte plötzlich, und dann ließ er den Zaun los und zog sie an sich, und die nächste Windbö packte sie beide und warf sie zu Boden.
    »Alles endet«, keuchte Siri. »Alles.«
    »Tut es das?«
    Sie nickte, sie klammerte sich an ihm fest, als könnte der Wind auch sie jetzt noch aufheben und davontragen, und trennte sich dann plötzlich von ihm.
    »Nein. Nein!«, rief sie gegen den Sturm

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