Friedhofskind (German Edition)
ging zum Gasherd und drehte an den Knöpfen.
»Nichts«, sagte er. »Die Gasflasche ist leer. Das jedenfalls stimmt.«
»Glauben Sie mir denn nicht?«, rief Siri. »Glauben Sie, ich habe mir das ausgedacht? Das kann doch nicht sein …«
»Wir könnten einfach bei der Datsche des Direktors klingeln.«
»Er wird nicht da sein. Er hat gesagt, er muss in die Stadt, in die Klinik, wo er arbeitet, heute früh, für länger.«
Werter zuckte die Schultern. »Dann wird er dort sein«, sagte er und sah Siri an, musterte sie von oben bis unten.
»Sie … Sie glauben, ich spinne.«
»Nein«, sagte er. »Ich glaube … ich glaube, Sie haben eine sehr rege Phantasie. Und Sie träumen manchmal. Wir alle träumen manchmal. Man sieht sich.«
Damit tippte er an einen nicht vorhandenen Mützenschirm und ließ Siri in der leeren Kellerwohnung allein. Sie kniete sich hin und begann, die Unordnung aufzuräumen, die der Sturm angerichtet hatte, als er durchs geöffnete Fenster gekommen war.
»Er ist nicht tot, er ist nicht tot, der Direktor ist nicht tot«, sagte sie vor sich hin, und sie versuchte, dabei erleichtert und fröhlich zu klingen, sie versuchte sogar, über sich selbst zu lachen, aber es gelang ihr nicht.
Die nächsten Tage waren seltsam. Die Wirklichkeit hatte sich in den herbstlichen Frühnebeln verfangen und war ganz nah, hinter der nächsten oder übernächsten weißen Schliere verborgen, aber doch niemals da. Siri arbeitete an den Fenstern wie eine Besessene.
Wenn sie auf dem Friedhof war, um neue fertige Teile einzubauen, wenn sie dort auf der Leiter stand, stand Lenz noch immer unten und sah ihr zu. Er sah ihr jetzt anders zu als zuvor, das Grau in seinen Augen war durchsichtig geworden, als finge dahinter etwas Neues an, das noch nicht ganz angekommen war. Etwas, das voraussetzte, dass das Alte zuerst zu einem Schlusspunkt kam.
Sie hatte Lenz erzählt, dass sie den Direktor nicht mehr gefunden hatte. An dem Abend des ersten Tages nach dem Sturm. Sie hatten zusammen auf der Friedhofsbank gesessen, inmitten der Verwüstung.
»Glaubst du mir?«, hatte Siri gefragt. »Glaubst du mir, dass er dort war? Dass er tot ist? Tot und nicht in der Stadt?«
»Ja«, hatte er gesagt. Zwischen ihnen auf der Bank waren zehn Zentimeter Platz frei gewesen.
»Aber wer hat ihn weggeschafft?«, hatte sie gefragt. »Und wohin? Und warum?«
»Ich kann es, zur Abwechslung, nicht gewesen sein«, hatte er geantwortet, sein Lachen trocken und schmerzhaft. »Ich war mit dir bei Annelie.«
Sie hatte seine Hand genommen und gedrückt, über zehn Zentimeter hinweg. Sie verbrachte die Nächte wieder in der Datsche bei ihm, sie konnte nicht in dem Bett schlafen, auf dem – vielleicht – der Direktor gelegen hatte, aber die Nebel waren zwischen sie gerückt. Selbst, wenn sie miteinander schliefen, waren die Nebel da. Manchmal dachte sie: Wenn ich jetzt einschlafe, wache ich am nächsten Morgen nicht auf. Etwas wird geschehen. Sie hatte die Gasflasche des Herdes in der Datsche leer brennen lassen, als Lenz draußen unterwegs gewesen war. Aber das war unsinnig, es gab andere Methoden.
Manchmal lag sie nachts wach und spürte ihr Herz rasen und hatte Angst.
Warum gehe ich nicht?, dachte sie. Warum lasse ich nicht Fenster Fenster sein und fahre zurück nach Berlin und vergesse alles? Weil ich Beweise brauche, antwortete sie sich im Stillen. Ich brauche einen endgültigen, absoluten, unumstößlichen Beweis dafür, dass Lenz Fuhrmann ein Mörder ist. Und weil ich ihn immer noch … aber dieses Wort verbot sie sich.
Wenn ich einen Beweis habe, dachte sie, kann ich das letzte Fenster einbauen und tun, wozu ich gekommen bin. Dann kann ich gehen. Und er schlief neben ihr, ruhig atmend, ein oder zwei Kaninchen vertrauensvoll an seinen Hals geschmiegt.
Sie sah Lena alleine mit dem Baby spazieren gehen und wünschte, sie hätte mit ihr sprechen können. Aber es war unmöglich. Sie konnte Lena nicht sagen, was am Morgen des Sturms auf ihrem Bett gelegen hatte. Niemals. Lena glaubte noch immer, der Direktor sei in der Stadt. Während Siri arbeitete, leuchtete das rote Telefon in ihrem Augenwinkel, und sie war versucht, den Hörer abzunehmen, um irgendjemandem von ihrer Verwirrung und ihren Zweifeln zu erzählen. Aber das rote Telefon war tot, es war immer tot gewesen, es hatte nie jemanden gegeben, der ihr am anderen Ende der Leitung zuhörte.
Und schließlich ging sie zu Werters Werkstatt und benutzte wieder das Werkstatttelefon.
»Sie
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