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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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den Sturm jetzt nur schwach jenseits des kleinen Fensters heulen.
    Es roch seltsam. Sie lehnte sich gegen die Tür und versuchte, zu Atem zu kommen – ihre Gedanken zu sammeln. Wonach roch es? Sie sah sich um. Der Boden des kleinen Flurs war ein Durcheinander aus Papier und Stiften, die der Wind aus der Werkstatt gewirbelt hatte, Sekunden hatten genügt. Siri öffnete die Tür zum Schlafzimmer, um dem Chaos zu entkommen, sich einen Moment aufs Bett zu setzen, ehe sie Ordnung in die Werkstatt brachte – und erschrak. Auf dem Bett lag jemand, die Decke halb über sich geworfen.
    »Lenz?«, fragte sie und machte einen Schritt ins Zimmer hinein.
    Mir ist kalt. Ich habe in der Kirche geschlafen. Nimm mich in den Arm. Draußen geht die Welt unter. Wie gut, dass du da bist.
    Nein, das auf dem Bett war nicht Lenz. Die Gestalt war kleiner als Lenz. Kleiner und zierlicher.
    Und dann stand sie vor dem Bett. Es war jemand, der vielleicht gewartet hatte und darüber eingeschlafen war. Der Direktor. Er hatte ihr etwas geben wollen. Doch seine Hände waren leer. Sie sah sich im Zimmer nach einem Gegenstand – einer winzigen Kleinigkeit – um, die vorher noch nicht da gewesen war, etwas, das er mitgebracht und irgendwo hingelegt hatte. Doch sie fand nichts.
    Sie streckte die Hand aus, um ihn zu wecken. Er reagierte nicht. Sie war selbst müde, sie merkte, dass sie Kopfweh hatte, sie setzte sich neben den Direktor, merkwürdig erschöpft.
    »Guten Morgen«, sagte sie leise. Er reagierte noch immer nicht. Sie fasste seine Schulter, schüttelte sie sacht – schüttelte stärker. Sie legte die Hand an seine Wange. Seine Haut war sehr kalt. Der Schmerz in ihrem Kopf tickte.
    Sie wollte rufen, den Direktor rufen: Stehen Sie auf, stehen Sie doch auf, es ist längst Tag, und draußen geht die Welt unter! Aber die Worte wollten sich nicht in ihrem Mund formen lassen.
    Sie drehte ihren schweren Kopf und sah sich um, und dann begriff sie. Und zwang sich, aufzuspringen. Sie war mit zwei Schritten beim Fenster, riss es auf, ließ den Sturm herein, der Sauerstoff mitbrachte, war mit zwei weiteren Schritten beim Herd neben der Tür. Sie wusste, dass sie das Gas ausgestellt hatte, als sie gegangen war.
    Und nun stellte sie es wieder aus.
    Aber es gab nichts mehr auszustellen. Das Gas hatte lange aufgehört, aus den Düsen zu strömen. Die Kartusche war leer.
    Siri weinte nicht. Sie sagte sich, dass sie hätte weinen sollen, dort an dem Bett, in dem der Direktor lag und nicht mehr lag, weil er, als Mensch, nicht mehr existierte. Sie hätte um das Klavier weinen sollen, das er nie für Lena in die Datsche bringen würde. Um die Musik oben im Wald, die er nie gefunden hatte. Aber sie konnte nicht weinen. Sie saß da, den Kopf in die Hände gestützt, und hinter ihrer Stirn rasten die Gedanken.
    Eine Gestalt unter einer Decke. Nicht zu erkennen von der Tür aus.
    Der Herd – der Herd an der Wand neben der Tür.
    Jemand, der hereinkam, um den Herd anzustellen, musste die Gestalt auf dem Bett nicht näher ansehen. Vergaß vielleicht, das zu tun, sah nur, dass dort jemand Schmales und nicht besonders Großes lag. Der Direktor war nicht groß gewesen.
    »Er hatte … er hatte keinen schlimmen Tod«, flüsterte Siri. »Es war mein Tod, der Tod, der für mich bestimmt war. Es wäre gar nicht schlecht gewesen. Langsam einschlafen. Gar nicht schlecht.«
    Und sie erinnerte sich an die Worte, die sie gesagt hatte, auf dem Rücken im Gras liegend, nur den weißen Herbsthimmel über sich.
    Wenn ich sterbe, irgendwann … begräbst du mich? Auf dem Friedhof hier, bei der alten Kirche? Ich habe eine Notiz gemacht, in meinen Unterlagen für den Kirchenverein. Dass ich das möchte.
    Und seine Antwort: Sag das nicht … das haben die anderen beiden auch gesagt.
    Geh nicht. Nie. Geh nicht. Nie. Geh nicht. Nie.
    »Ich wäre also nie gegangen«, flüsterte sie. »Ist es das? Du hättest mich dort begraben, bei den anderen, und ewig mit mir sprechen können. Wäre ich zurückgekommen, in deiner Vorstellung, wie Iris? Zurückgekommen, um ewig zweiunddreißig Jahre alt zu bleiben, zurückgekommen als Idee, als Ideal, jenseits von Alter und Makel?«
    Aber sie wollte es nicht glauben. Sie konnte es nicht glauben, es gelang ihr einfach nicht.
    Sie rutschte auf Händen und Knien über den Boden, um die letzte Skizze im Chaos zu finden, und sie fand sie, den Körper des Dorfs, das sich selbst kreuzigte. Sie hatte den Direktor vergessen. Sie fand einen Stift,

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