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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hörte die Kaninchen in den Ecken träumen. Dazwischen ist die Lücke. Siri vertraut mir nicht mehr. Man kann keinem vertrauen, der eine Erinnerung voller Lücken hat. Habe ich das getan, Annelie? Habe ich das Gas in Frau Hartwigs Kellerwohnung aufgedreht? Wollte ich sie auf diese Weise halten, als Erinnerung auf meinem Friedhof? Und Iris? Und die Frau, die keiner kannte und die so viel mit mir gesprochen hat und die so schön war, auf ihre eigene Weise … Carla Berg? Es ist so lange her … aber auch da ist eine Lücke, glaube ich. Ich weiß nicht, was ich getan habe, während sie ertrunken ist. Ob ich dabei war. Ein Badeunfall, haben sie gesagt … wir waren oft zusammen schwimmen, Frau Berg und ich … sie war schön. Und eine gute Schwimmerin. Und da war kein Unwetter, oder? Ein Badeunfall … die Polizei hat es letztlich aufgegeben, etwas anderes zu beweisen, sie waren doch hier, oder? Sie haben alle gefragt, und keiner wusste etwas, keiner hat geantwortet … aber das kommt vielleicht daher, dass niemand die Polizei mag«
    »Doch, jemand hat geantwortet«, sagte Annelie und öffnete die Augen. Sie setzte sich ein wenig gerader hin in ihrem Korbstuhl, und ihr Blick war klar, nicht wie der Blick einer Person, die eben erst aufgewacht ist. Sie sah ihn an mit diesem klaren Blick, und in ihren Augen lag etwas allumfassend Zärtliches, dass ihn schaudern ließ. »Ich habe geantwortet. Ich habe ihnen gesagt, wo du warst, in der Zeit des Unfalls. Hier, du warst hier, hier bei mir.«
    »Aber das ist nicht wahr.«
    »Nein«, sagte Annelie und lächelte. »Natürlich nicht. Spielt das eine Rolle?«
    »Warum … warum hilfst du mir?«, flüsterte Lenz. »Immer schon? Ich wünschte fast, du hättest mir nie geholfen, vielleicht wäre es besser gewesen …«
    Annelie streckte ihre Hand nach ihm aus, komm her, bat ihre Hand, und er kam, er kniete sich neben ihren Stuhl und ließ die Hand über sein Haar streichen.
    »Warum hilft man jemandem?«, wisperte Annelie. »Es gibt wenig Gründe. Und viele … ich erinnere mich genau, wir saßen im Garten, es war ein früher Sommermorgen, neblig. Man hörte die Vögel beinahe nicht durch den Nebel. Du warst achtzehn und ich war achtundfünfzig. Du hast mir von der Lücke erzählt, schon damals. Sie hatten die Berg noch nicht gefunden, aber von der Lücke wusste ich schon, und ich ahnte. Ihr hattet, sagtest du, über das Bleiben und Gehen gesprochen, am Tag zuvor, sie würde natürlich nicht bleiben, hast du zu mir gesagt, niemand bleibt hier … und da saßt du, achtzehn Jahre alt, das ganze Leben vor dir, und Carla Berg war tot, ich wusste ja, dass sie tot war. Sie würde bei dir bleiben. Ich konnte der Polizei nicht von Lücken erzählen. Ich wollte nicht, dass sie dich einsperrten wie ein Tier und dieses Leben einfach durchstreichen wie einen Punkt auf einer unwichtigen Liste. Ich wollte, dass du eine Chance hast, verstehst du … warum hilft man jemandem? Man liebt, nehme ich an.«
    »Ich bin das Kind, das du nie hattest«, sagte Lenz, leise. »Ich weiß das. Aber –«
    »Aber du hattest eine Mutter, Lenz. Und du wusstest es nicht. Du wusstest nicht, was es hieß, dass ihr über das Bleiben und Gehen gesprochen habt. Es hieß nicht, dass sie gehen würde. Sie hätte dich mitgenommen.«
    Er kniete ganz still dort auf dem Verandafußboden, zwischen den Töpfen mit den Resten der Bäume, kniete neben Annelies Stuhl und begriff ganz langsam, als wäre das Begreifen eine Art Pegel, der stieg und stieg, bis er den oberen Rand eines Gefäßes erreicht hatte und überschwappte, und als das geschah, sah er zu Annelie auf.
    »Nein«, sagte er.
    »Doch«, sagte sie. »Natürlich. Charlotte und Carla. Charlotte Fuhrmann und Carla Berg. Es war ein und dieselbe Person.«
    »Nein.«
    »Niemand hat sie erkannt. Doch, Winfried, aber zu spät. Ein Mensch kann sich verändern, wenn er will. Lotte Fuhrmann war ein junges Mädchen aus dem Dorf, Carla Berg war die Frau eines Arztes aus der Stadt. Sie hatte eine Menge Schminke im Gesicht, abgesehen von allem anderen. Die Haare anders. Andere Kleidung … sie sprach anders. Das war vielleicht das, was am meisten ausmachte, ihre Sprache. Sie war eine kluge Frau, viel klüger, als ich es Lotte je zugetraut hätte. Aber sie war es. Ich war die Einzige, die es wusste. Ich wusste es, als ich sie mit dir sprechen sah. Sie hatte gedacht, du wärst erfroren, damals, im Schneesturm. Sie hat den Kinderwagen stehen lassen und ist losgewandert, und

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