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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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geohrfeigt hatte – lange, lange her.
    Er schlug nicht zu, diesmal nicht. Er überlegte es sich anders und zog Kaminski wieder hoch, presste seinen Oberkörper gegen die Wand der Küche. Kaminski versuchte, etwas zu sagen, doch seine Worte gingen in einem unkenntlichen Gurgeln unter. Lenz’ große Hände hatte sich um seine Kehle geschlossen und drückten zu.
    †   †   †
    Annelie hatte ihm verboten, den Arzt zu rufen, er hatte sie letztendlich auf ihr Bett gelegt und sich neben sie gesetzt, mehr konnte er nicht tun. Er erzählte ihr vom nächsten Frühling, um sie von dem Schmerz in ihrer Brust abzulenken, vom wunderbaren nächsten Frühling, in dem er ihr helfen würde, ihren Garten wieder aufzubauen, Neues zu pflanzen, alle Wunden zu heilen, die der Sturm gerissen hatte.
    Und schließlich, gegen Abend, schlief sie ein, eine Hand auf ihr Herz gepresst. Zwischendurch hatte sie geglaubt, zu ersticken, aber jetzt atmete sie wieder ruhig und gleichmäßig.
    Es fiel ihm schwer, sie zu verlassen. Er streichelte ihr weißes Haar, ehe er ging.
    »Ich würde bleiben«, flüsterte er, obwohl sie ihn nicht hörte im Schlaf. »Und ich komme wieder, Annelie. Bald. Aber ich habe ein komisches Gefühl … ich muss Siri finden. Ich habe ihr nicht gesagt, wo ich bin, sie hat vielleicht nicht mitbekommen, dass ich bei dir bin. Und sie fragt sich, warum ich plötzlich weg war … ich habe das Gefühl, dass irgendetwas schiefgegangen ist. Auf furchtbare Weise schief. Ich weiß nicht, was. Es ist nur so ein Gefühl. Das letzte Fenster ist fertig und eingebaut, und … nichts mehr hält sie hier …«
    Sie war nicht in der Kellerwohnung von Frau Hartwig, aber das Auto stand noch da, und er atmete auf. Sie war nicht einfach nach Berlin zurückgefahren, nicht, ohne sich zu verabschieden.
    Er suchte sie auf dem Friedhof und in der Kirche, doch auch dort war sie nicht.
    Auf der großen Eiche saß Iris und baumelte mit den Beinen.
    »Wo ist sie?«, fragte er. »Wo ist Siri?«
    Iris zuckte die Schultern.
    »Nein«, sagte Lenz. »Bitte. Du weißt es. Ich sehe dir an, dass du es weißt.«
    »Muss ich dir alles sagen?«
    »Iris, es ist wichtig! Ich muss sie finden!«
    »Das musst du nicht. Komm. Kletter zu mir rauf. Man kann die Sonne untergehen sehen von hier. Es ist schön.«
    Er schüttelte den Kopf. »Wo? Ist? Siri?«
    »Du bist … du bist ein Dickkopf! Wo ist Siri? Wo wird sie schon sein? Im dunklen Haus.«
    »Warum? Es hat nicht einmal mehr ein Dach …«
    »Vielleicht sucht sie ja etwas. Einen Zettel von Aljoscha zum Beispiel, einen Umschlag vom Direktor«, sagte Iris sauer, stand auf und balancierte über den Ast hinein ins Blättergewirr.
    »Einen Zettel?«, wiederholte Lenz. »Erklär mir …«
    Aber sie war verschwunden.
    Er nahm nicht den Pfad, er ging hinten herum, über die Wiesen.
    Er war noch gut hundert Meter vom Haus entfernt, als jemand das Küchenfenster öffnete. Siri.
    Sie stand dort im Abendlicht, und es übergoss sie rot und golden, es war, dachte er, das erste Mal, dass Licht auf etwas oder jemanden fiel, der sich im Haus befand. Er blieb stehen. Sie trug nur ein Unterhemd, das war seltsam, und, seltsamer noch, um ihre Arme war ein Strick gewickelt. Etwas in ihm bäumte sich auf, als er den Strick sah. Er merkte, wie er zu schwitzen begann, aber zugleich war ihm eiskalt.
    Da war noch jemand; jemand stand direkt hinter Siri, jemand, der ihn nicht gesehen hatte. Kaminski. Er sah ihn den Strick lösen, Siri das Unterhemd ausziehen und den Strick auf merkwürdige Weise wieder festbinden, er wollte etwas tun, doch er konnte sich nicht bewegen. Siri sah ihn die ganze Zeit über an, und in ihrem Blick lag etwas wie kalter Triumph. Er begriff nichts. Er sah, was sie dort mit Kaminski am Fenster tat, er sah es deutlich, und in ihm zerbrach ein großes, gläsernes Etwas zu tausend Scherben.
    Er trat erst aus dem Scherbenhaufen hervor, als alles vorüber war und Kaminski sich aufs Fensterbrett stützte wie ein Sportler nach einem Langstreckenlauf. Da schüttelte Lenz die letzten Stücke des Glases ab – es war vermutlich blaues Glas gewesen, blaues Glas ist brüchig – und war nicht länger erstarrt. Er wusste nicht, wie er zum Fenster gekommen war, er war auf einmal dort, er sah seine Arme, die Kaminski packten, sah ihn auf dem Küchenfußboden liegen, riss ihn hoch und drückte ihn gegen die Wand.
    Die Augen in dem Gesicht vor ihm waren blau wie die von Iris und Siri und doch ganz anders. Er verspürte nur

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