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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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verbarg, zu den Schatten in der Küche, vielleicht, um festzustellen, ob noch jemand hier war.
    »Was … was soll das?«, fragte er und nickte zu dem Seil hin.
    »Ich … ich habe es gefunden. Ich bin hergekommen, um … um nachzudenken, und das Seil … es bedeutet nichts, es lag nur so herum …« Hatte sie den Schrank oben im Schlafzimmer geschlossen? Doch, doch. Kaminski durfte seine Türen nicht öffnen. Er durfte die Treppe nicht hochgehen.
    Aber warum, warum tue ich das?, fragte sie sich im Stillen. Warum sage ich ihm nicht die Wahrheit? Warum schütze ich Lenz noch immer? Er hat es geschafft, sich in mich hineinzufressen, in meinen Kopf, in meine Seele, es ist ihm irgendwie gelungen, einen Platz in mir zu finden, von dem ich ihn nicht mehr vertreiben kann …
    Sie drehte sich um und sah ins Licht, das da draußen über dem Wellenland hing, sie drehte sich aus keinem bestimmten Grund um, und dann sah sie, dass sich dort in der Ferne etwas bewegte; etwas in ihr hatte gespürt, dass sich dort jemand näherte. Er kam über die Wiesen, er ging auf das Haus zu, er würde über den Gartenzaun steigen. Er war noch weit weg, eine schemenhafte Gestalt nur, grau und groß.
    Sie ging hinüber zum Fenster, es waren nur drei Schritte, und hier fiel das Licht auf sie, ganz plötzlich, das goldrote Herbstabendlicht; es stach beinahe in ihren Augen. Sie öffnete das Fenster, weit, weit. Kälter konnte ihr ohnehin nicht mehr werden. Kaminski trat hinter sie, sie spürte seinen Atem in ihrem Haar. Sie spürte die Nähe seines Körpers, ohne dass er sie berührte. Er roch nach Benzin und Aftershave, nicht einmal unangenehm.
    Lenz blieb stehen.
    Er hatte sie gesehen, ihren Körper am Fenster, im unerwarteten Licht. Er hob den Arm und winkte. Sie winkte nicht zurück, sie sah ihn nur an.
    »Was ist denn da draußen?«, fragte Kaminski hinter ihr.
    Er hatte Lenz noch nicht entdeckt, seine Gestalt verschmolz beinahe mit den grauen Abendsilhouetten der verwilderten Stauden und Sträucher.
    »Nichts«, erwiderte Siri. »Nur die Abendsonne.«
    Sie sah Lenz’ Augen nicht, er war viel zu weit weg. Sie fragte sich, ob er die Waffe bei sich trug. Ob er wusste, dass sie wusste . Weil sie hier war. Und weil sie nicht winkte.
    Aber er würde nichts tun, dachte sie dann, natürlich nicht, er würde niemanden einfach so erschießen. Es waren immer Unfälle gewesen – die Ostsee, die Klippen, das Gas. Es musste aussehen wie ein Unfall, und dazu musste er erst ins Haus kommen. Die Tatsache, dass Kaminski hinter ihr stand, rettete sie vielleicht in diesem Moment.
    Siri Weiß. 1980   –   2012.
    Seltsam, sie konnte ihn noch immer nicht hassen. Er stand da in der grauen Abendnatur und war unhassbar.
    Und auf einmal verspürte sie das unsinnige Bedürfnis, ihn zu verletzen. Das Bedürfnis war so stark, dass es in ihr riss, es zerquetschte sie, wie die Sehnsucht nach dem Nicht-mehr-Alleinsein es getan hatte.
    »Ja«, sagte sie und spreizte ihre Arme, sodass das Seil sich spannte. »Fesselspielchen.«
    Dann hob sie die Arme über den Kopf, sie konnte sie weit genug auseinanderhalten, um sie um Kaminskis Hals zu legen. Sie hörte seinen Atem schneller gehen.
    »Aber –«, sagte er.
    »Nichts aber«, sagte sie.
    »Hast du es dir überlegt, ja?«, flüsterte er. »Hast du …«
    »Sch, sch«, sagte sie. »Sch, sch.«
    Und er gehorchte ihr, er schwieg, er kuschte wie ein Hund. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, und für einen Moment war da nur sein rascher Atem nahe bei ihrem Ohr. Sie fühlte die abrasierten Haarstoppeln, als er seinen Kopf an ihrem Hals rieb. Schließlich schoben seine Hände ihr Unterhemd hoch und seine Finger legten sich auf ihre kaum vorhandenen Brüste. Sie war immer zu dünn gewesen, um wirklich weiblich zu sein, aber Kaminski schien gerade diese Art von Unweiblichkeit zu gefallen. Er löste ihre Arme von seinem Hals, löste die Knoten, die nicht einmal wirklich Knoten waren, streifte das Unterhemd über ihren Kopf. Dann schlang er das Seil um ihren Oberkörper, beugte ihre Arme und band ihre Handgelenke sorgfältig vor ihrer Brust zusammen wie in einem merkwürdigen Gebet. Sie ließ es geschehen. Beinahe lachte sie.
    Seine Knoten waren so locker wie ihre.
    »Ich hätte nie gedacht …«, flüsterte er.
    »Sch, sch.«
    Sie schmiegte sich an den Körper hinter ihrem, es war, als wäre sie betrunken, betrunken vor Verzweiflung. Sie hatte alle Hemmungen verloren. Nicht, dass das, was Kaminski tat, sie in

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