Friedhofskind (German Edition)
einen Wunsch, und dieser Wunsch schoss in seine Hände und begann, dem Körper vor ihm die Luft abzudrücken. Im Augenwinkel sah er Siri, die in ihre Manteltasche griff. Kaminski wehrte sich, er wehrte sich mit Händen und Füßen, panisch. Dann verließ ihn die Kraft, seine Versuche, sich zu befreien, wurden schwächer.
Ich bringe ihn um, dachte Lenz mit seltsamer Klarheit. Hier hocke ich auf dem Küchenfußboden, wo ich so oft mit Winfried gesessen und geschwiegen habe, und bringe jemanden um. Es ist ja ganz leicht. Kaminski schloss die blauen Augen, ergeben. Er hatte begriffen, dass es keinen Sinn hatte, sich zu sträuben.
Da spürte Lenz kaltes Metall an seiner Schläfe.
»Lass ihn los«, sagte Siri, und ihre Stimme war kalt wie das Metall.
Lenz sah auf. Er erwachte aus seiner Wut wie aus einem Traum. Er lockerte seinen Griff.
»Lass ihn los«, wiederholte Siri.
Er gehorchte, löste seine Hände wie aus einem Krampf. Sie trat einen Schritt zurück, und jetzt sah er die Waffe in ihrer Hand. Es war die kleinste Pistole, die er je gesehen hatte. Sie hatte sie auf sein Gesicht gerichtet, und sie sah nicht aus, als würde sie lange zögern, sie zu benutzen.
Er stand auf, hob die Hände und ging einen Schritt rückwärts, auf die Küchentür zu.
Der Lauf der Waffe folgte ihm. Kaminski saß noch immer auf dem Boden, die Augen noch immer geschlossen, noch immer kraftlos. Aber er atmete, Lenz sah ihn atmen.
»Geh«, sagte Siri.
Und er ging.
16
»Wie …?«, fragte Kaminski, als er wieder sprechen konnte. »Wie hast du …? Ich meine … er hat auf dich gehört.«
»Ja«, sagte Siri einfach.
Er hatte die Waffe nicht gesehen, sie lag längst wieder in der kleinen Blechkiste in der Tasche des geblümten Regenmantels.
Kaminski stand auf und kämpfte sich endlich in seine Sachen. Im Vergissmeinnichthellblau seines Blicks waren deutlich die Spuren von Lenz’ Kraft zu lesen.
»Er hätte mich umgebracht«, sagte er, und seine Stimme war ganz fremd, klein und beinahe wie die eines Kindes.
»Ja«, sagte Siri wieder.
Kaminski richtete sich auf, versuchte, den Schrecken abzuschütteln und wieder stark und selbstbewusst auszusehen, aber noch gelang es ihm nicht.
»Ich werde es beweisen. Alle diese Morde. Werter will Beweise … Werter ist noch nicht überzeugt. Aber ich bin mir sicher, dass er es ist. Was ist mit dir? Was denkst du? Du bist nicht mehr mit ihm zusammen, oder? Seit wann?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Zusammen, nicht zusammen. Willst du mit mir gehen? Kreuz an: ja, nein, vielleicht. Haha.
»Was mit mir und Lenz Fuhrmann ist, geht dich nichts an«, sagte sie. »Aber wenn du wissen willst, ob er ein Mörder ist …« Sie zuckte die Schultern. »Dann kann ich dir nicht helfen. Das muss du selbst herausfinden. Komm jetzt. Es wird zu dunkel.«
Am Ende des Pfades, wo sich ihre Wege trennten, blieben sie noch einmal stehen. Sie sah, dass Kaminski den Strick mitgenommen hatte wie ein makaberes Andenken.
»Wie lange bleibst du noch?«, fragte er. Seine Stimme klang wieder mehr wie seine eigene. »Wir könnten das wiederholen, ich meine, was wir am Fenster gemacht haben, bei Gelegenheit …«
Siri sah ihn nur an, und er verstummte. »Wohl kaum«, sagte sie.
»Ich meine, wenn du das nicht magst, wir können es anders machen, ich könnte …«
»Halt den Mund«, sagte Siri hart. »Ich fahre. Morgen früh. Geh die Frau deines Freundes ficken, wenn er wieder auf Montage ist.«
Die Worte, dachte sie, waren nicht ihre eigenen; waren keine, die sie sonst benutzte. Aber vielleicht war sie auch gar nicht mehr sie selbst. Sie hatte vergessen, wer sie war.
† † †
»Iris?«, flüsterte Lenz. »Bist du da?«
»Natürlich bin ich da«, flüsterte sie zurück. Und dann spürte er ihre Hand in der Dunkelheit, die sich in seine eigene schob. Sie saß auf dem Steg, ganz vorn, und er setzte sich zu ihr. Sie sahen gemeinsam aufs schwarze Meer hinaus, wo ab und an die Positionslichter eines Frachtschiffs auftauchten und wieder verschwanden. Der Himmel hatte alle Sterne abgeschüttelt und den Mond an eine andere Welt verschenkt.
»War es sehr schlau, dass du hingegangen bist?«, flüsterte Iris und rückte ein wenig näher an ihn heran. »Zu Winfrieds Haus?«
»Nein«, sagte er.
Sie schwiegen eine lange Zeit.
»Was hast du gesagt über einen Zettel von Aljoscha?«, fragte Lenz dann. »In einem Umschlag?«
»Der Direktor hat den Zettel gefunden«, flüsterte Iris. »Er wollte ihn ihr geben. Er
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