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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hat ihn mit in die Kellerwohnung genommen. Aber Siri hat ihn anderswo gefunden.«
    »Ich fürchte, ich verstehe nichts.«
    »Das ist so mit Erwachsenen«, sagte Iris und seufzte.
    »Ich bin nicht erwachsen.«
    »Doch«, sagte sie. »Doch, Lenz. Du bist es geworden. In diesem Sommer. Es kann nie wieder so sein wie früher. Auch wenn Siri geht.«
    Er drückte ihre kleine Hand so fest, dass sie die Luft scharf durch die Zähne einsog.
    »Entschuldige«, sagte er. »Ich wollte selten überhaupt irgendjemandem wehtun … Kaminski, Kaminski wollte ich wehtun. Vorhin. Ich hätte ihn umgebracht.«
    »Na klasse. Einer mehr.«
    »Einer mehr?«
    »Einer mehr zum Begraben. Der Friedhof wird langsam ziemlich voll, was? Aber … du hast ihn nicht umgebracht.«
    »Nein. Siri hat mich gestoppt. Iris. Sie hat eine Waffe.«
    »Ich weiß. In einer Blechdose wie für Bonbons. In ihrer Manteltasche.«
    »Du weißt das? Und hast es mir nie gesagt?«
    Sie antwortete nicht. Es war ganz still, nur das Meer schlug in kleinen Wellen an die Flanken der drei Fischerboote und die Pfähle, auf denen der Steg ruhte.
    »Lenz«, wisperte Iris schließlich. »Verstehst du, warum Siri hergekommen ist? Siri, meine Schwester? Ich meine, ich wusste es lange nicht … aber jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass ich es weiß.«
    »Um die Wahrheit herauszufinden. Über damals. Über dich und deinen Tod.«
    »Das auch. Aber was glaubst du, warum sie eine Waffe in der Tasche hat? Was glaubst du, warum sie dir so nahegekommen ist? Warum sie angefangen hat, etwas zu werden wie … deine Freundin?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Doch«, sagte Iris, »doch, das weißt du.«
    †   †   †
    Siri saß auf dem Bett in der hartwigschen Kellerwohnung, die Decke um sich geschlungen, und starrte in die Dunkelheit. Die Tür war abgeschlossen. Sie hatte geduscht und ihre Sachen gepackt. Sie war bereit, das Dorf für immer zu verlassen.
    Noch nicht ganz bereit.
    Über die Bettdecke hatte sie den geblümten Mantel gebreitet, der sie so lange geschützt hatte, weil sie wusste, was in seiner Tasche ruhte. Sie hielt die Waffe jetzt in der Hand wie einen Teddybären, den man als Kind umklammert. Es war eine lange Geschichte, wie sie an die Waffe gekommen war, eine Geschichte, die nichts mit dieser Geschichte zu tun hatte und im Grunde auch uninteressant war.
    »Ich kann es nicht«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Ich kann es nicht, ich kann es nicht.«
    Sie hätte zufrieden sein sollen. Sie hatte alles – beinahe alles – erledigt, was sie hatte erledigen wollen.
    Sie hatte die Fenster fertiggestellt. Aber das war unwichtig.
    Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben nicht zu zurückhaltend und schüchtern gewesen, sie hatte sich selbst alles bewiesen, was man beweisen konnte, sie war eine andere geworden. Eine Person, auf die ihr Vater stolz sein konnte.
    Und sie hatte herausgefunden, was sie hatte herausfinden wollen. Sie kannte den Mörder ihrer Schwester.
    Es gab nur noch eine letzte Sache zu tun.
    Eine letzte Sache, von der sie ihrem Vater berichten wollte, wenn sie zurückkam – ehe sie ihm für immer den Rücken zukehren würde. Ich bin nicht das Ersatzkind, würde sie sagen. Ich bin viel stärker, als du gedacht hast. Und ich habe sie gerächt. Ich habe Iris gerächt. Was für ein altmodisches Wort! Es gab kein moderneres.
    »Ich kann es nicht«, flüsterte sie wieder. »Ich kann nicht.«
    Das ganze Dorf, dachte sie, würde sie decken. Niemand würde etwas zur Polizei sagen, niemand würde die Waffe in ihren Händen gesehen haben, sie würden zusammenhalten, dichthalten, sie waren auf ihrer Seite. Nur sie selbst war nicht auf ihrer Seite.
    Lenz Fuhrmann war ein Mörder, und er war krank. Aber sie liebte ihn.
    Sie konnte nicht tun, was sie damals geplant hatte, ehe sie ihn gekannt hatte.
    Sie konnte ihn nicht erschießen.
    Am Morgen hatte der Wind wieder aufgefrischt.
    »Der Sturm kommt zurück«, sagte Frau Hartwig, als Siri ihre Sachen in den Golf einlud. »Der ist noch nicht fertig mit uns … ja … die Rechnungen sind alle beglichen … dann wünsch ich Ihnen noch eine gute Heimreise …«
    »Danke«, sagte Siri und lächelte sie an. Ihr war nicht unbedingt nach Lächeln zumute. »Ich werde ein letztes Mal durchs Dorf gehen«, sagte sie. »Mich verabschieden von … von der Landschaft und allem.«
    »Warten Sie«, sagte Frau Hartwig. »Ich hole nur meinen Schal. Ich komme mit. Wollte sowieso zum Friedhof, meinem Mann ein paar Blumen aufs Grab

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