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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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über geglaubt, dass sie zweifelte. Aber sie hatte nie gezweifelt, jetzt erst merkte sie es. Sie war sich immer sicher gewesen, dass Lenz Fuhrmann unschuldig war. Unschuldig und naiv wie ein Kind – Friedhofskind. Sie hatte begonnen, seine Geschichte zu verstehen, und sie verstand sie jetzt, nicht ganz, aber zum Teil, sie verstand, warum seine Gedanken keine normalen Wege gingen. Aber es nützte nichts, ihn zu verstehen.
    Er war kein liebenswerter, gutmütiger Riese, dem die falschen Gerüchte folgten.
    Er war ein Mörder.
    Und sie glaubte auch nicht, dass er es selbst nicht wusste – dass seine Erinnerung ihn im Stich ließ, dass er vergessen hatte, was in jener Nacht geschehen war oder später, auf den Klippen oder in der Kellerwohnung, wo er den Gasherd aufgedreht hatte.
    Sie nahm die Hände vom Gesicht und fuhr mit den Fingern die Kerben im Tisch nach. Lotte Fuhrmann, Jens Fuhrmann … da war eine neue Kerbe, neue beunruhigend ordentliche Schrift: Winfried Fuhrmann … die Schrift auf dem Tisch unterschied sich von der Beschriftung der Knochen im Schlafzimmerschrank, aber vermutlich lag es daran, dass die Namen hier winzig waren, damit alle auf die Tischplatte passten. Iris Weiß, das war es, er hatte sogar das Schneehuhn als winziges Relief aus dem Tisch herausgearbeitet, es war kaum so groß wie der Nagel ihres kleinen Fingers.
    Und plötzlich stand sie auf, streifte Regenmantel und Pullover ab, sodass sie nur noch im Unterhemd dasaß, und wickelte den Strick um einen Arm. Dann um den anderen – obwohl das schwierig war mit nur einer freien Hand. Sie wollte ihn auf ihrer bloßen Haut fühlen. Spüren, wie es war, an ein Boot gefesselt zu sein. Spüren, was Iris gespürt hatte. Sie hob die Arme, versuchte, sie auseinanderzuziehen, und fühlte den Widerstand; der Strick war rau genug, dass sich seine Schlaufen gegenseitig beklemmten … so also war es für Iris gewesen, als sie gekämpft hatte, unter Wasser, ohne Luft zu bekommen.
    Sie ließ die Arme sinken, wollte den Strick abschütteln – jetzt, da sie nicht mehr zog, würde er sich von alleine lösen. Er löste sich nicht, und sie löste ihn ebenso wenig, denn in diesem Moment entdeckte sie eine neue Kerbe im Tisch, wo das Holz noch hell war: heller sogar als das in der Kerbe, die das Grab des alten Fuhrmann symbolisierte. Sie beugte sich darüber.
    SIRI WEISS , stand unter dieser Kerbe, diesmal in großen Druckbuchstaben, so als wollte jemand sichergehen, dass es für jeden gut lesbar war. SIRI WEISS , 1980 – 2012 .
    Sie blinzelte, las die Zeile noch einmal und noch einmal und sprang auf. Wo war der geblümte Mantel?
    Mit einem Mal zitterte sie in ihrem dünnen Unterhemd. Draußen strich der Abendwind durch die zerbrochenen Büsche.
    Es war wirklich sehr kalt im Haus.
    Sie hörte das Klopfen erst beim zweiten oder dritten Mal, sie hatte reglos vor dem Tisch gestanden, reglos und eingefroren. Vor dem Fenster ging noch immer die Sonne unter. Es klopfte ein weiteres Mal. Die Schatten in der Küche waren dick und zäh wie Pech.
    Pech-Ton. Schwarz. Das Gegenteil von Weiß.
    Im Flur gab es jetzt Schritte, schwere Schritte, Stiefelschritte, die vor der Küchentür stehen blieben und zu zögern schienen. Sie drehte sich um, starrte die Tür an. Sie wusste, dass sie längst den geblümten Mantel hätte aufheben müssen. Es war zu spät.
    Die Tür öffnete sich, und Siri sah im Dämmerlicht in ein Gesicht, auf dem sich etwas wie Sorge in Verwirrung verwandelte. Dann lächelte das Gesicht.
    »Was ist das?«, fragte Kaminski. »Fesselspielchen?«
    Siri sah an sich hinab. Das Seil war noch immer um ihre bloßen Unterarme geschlungen.
    »Ich –«, begann sie und brach ab.
    »Was dagegen, wenn ich reinkomme?«
    Sie schüttelte den Kopf, stumm. Er schloss die Tür hinter sich und trat näher, ganz nahe, sah sie an – er war größer als sie, nicht annähernd so groß wie Lenz, aber groß genug, um zu ihr hinabsehen zu können. Seine Augen waren im Dämmerlicht noch immer vergissmeinnichtblau.
    »Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte er. »Ich habe Sie hierhergehen sehen, nach der Kirche. Und Sie sind nicht wiedergekommen. Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist.« Er strich über die blonden Haarstoppeln auf seinem Kopf als streichelte er ein Tier, eine Übersprungshandlung, er war verlegen. Seine Augen sprangen unstet von dem Seil, das um ihre nackten Arme lag, zu ihrem Oberkörper in dem leichten Hemd, das sie statt eines BH s trug und das wenig

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