Friedhofskind (German Edition)
legen … bald ist sein Todestag, da backe ich Makronenkuchen, den hat er immer so geliebt. Kennen Sie den Trick, um Makronenkuchen zum Aufgehen zu bringen …?«
Der Friedhof war weder so leer noch so still wie sonst, und Siri schüttelte sich, als sie durch das Tor trat. Es war wie ein Déjà-vu: Auf der Bank saß das kleine Mädchen, Amy, mit ihrer hysterischen Mutter und ihrem Bruder, und um sie herum hatten sich eine Menge Leute versammelte. Die hellen Kinderstimmen erzählten irgendetwas, und die tiefen Stimmen der Erwachsenen stellten Zwischenfragen. Frau Hartwig tauchte in die Gruppe der Menschen ein wie in ein Element, aber Siri wollte nicht hören, worüber sie sprachen.
Sie ging einmal um die Kirche herum, an allen Fenstern vorbei:
Mutter mit Kind im Schneesturm.
Vertreibung der Saatkartoffelgespräche vom Friedhof.
Flucht der Iris-Maria-Magdalena. Fischer auf dem Wasser. Auferweckung des Toten.
Vor dem letzten Fenster blieb sie stehen.
Und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass da kein blaues Glas war in diesem letzten Bild. Vermutlich war es deshalb hässlich. Sie sah die Menschen aus dem Dorf ihre Hände zu dem abstrakten Körper recken, der gekreuzigt wurde, nach Erlösung ausstrecken … und dann merkte sie, dass eine Person fehlte. Lenz. Wo war Lenz – auf diesem Bild?
Sie sah sich um. Wo war Lenz in der Realität? War er hier, auf dem Friedhof, seinem Friedhof? Saß er dort oben in der Eiche, verborgen im Herbstlaub? Verbarg er sich in den Schatten eines Grabsteins, irgendwo, wo sie ihn nicht sah? Würde sie ihn noch einmal sehen, ehe sie ging?
Sie sah wieder das Bild an. Nein, es waren zwei Personen, die fehlten. Da gab es noch jemanden, der nie zum Dorf gehört hatte und der nicht in der Gruppe stand. Annelie. Frau Ammerland. Warum hatte Siris Stift sie nicht auf die Skizze gezeichnet, nicht ins farbige Glas gebannt? Streckte sie denn ihre Hände nicht nach Erlösung aus?
»Und warum habt ihr das bis jetzt nicht erzählt?«, fragte jemand in der Gruppe der Leute, sie hörte die Frage deutlich. Es war Werters ruhig-tiefe Stimme, die sie stellte. »Es ist doch jetzt schon eine Weile her.«
»Weil die Ammerland uns Geld gegeben hat, wenn wir’s nicht sagen«, antwortete die Jungenstimme des kleinen Jacky. »Aber jetzt geht’s ihr nicht gut, wir war’n heute Morgen da, die gibt uns kein Geld mehr, die nicht, die liegt im Bett, die stirbt bald, bestimmt.«
Siri ging die paar Schritte hinüber, die Neugier trieb sie beinahe gegen ihren Willen zu den Leuten, auch sie war nicht besser als die Kuchenfraktion, sie war ein Mensch.
»Erzählt noch mal der Reihe nach«, sagte der Vater der Kinder, der hinter der Bank stand. Er wirkte so verwirrt wie in der Kirche, er war noch immer nicht ganz im Dorf angekommen, er begriff nicht, in welches Muster, in welche Geschichte die Erzählung seiner Kinder gehörte. Sie waren nur zu glücklich, noch einmal von vorne anzufangen – sicher nicht erst zum zweiten Mal, dachte Siri.
»Na, er hat gegraben, hier, mit der Schaufel«, sagte Amy. In ihrem blonden Haar leuchteten die gleichen frisch gefärbten rot-rosa Strähnen wie im Haar ihrer Mutter. »Bei dem Grab von dem kleinen Mädchen. Iris. Und dann hat er die Schaufel weggelegt und hat mit den Händen weitergegraben. Jacky und ich, wir hatten diese Wette am Laufen, irgendwie wer sich traut, nachts auf den Friedhof zu gehen, oder so …«
»Und als er aufgestanden ist, hatte er Knochen in der Hand, ganz viele«, fuhr Jacky fort. »Mädchenknochen. Und an seinem Mund war Erde. Er sah ganz wahnsinnig aus, und dann ist er weggerannt.«
»Die Knochen waren auch ganz blank, wie abgenagt«, fügte Amy hinzu. »Weil er die nämlich frisst wie ein Hund, weil er spinnt, das hat Jacky gesagt …«
»Und das stimmt auch«, sagte Jacky. »Ihr hättet ihn mal sehen sollen, in der Nacht … seine Augen haben im Dunkeln geleuchtet, echt, wie bei einem total Irren, und wir hatten bloß Glück, dass er uns nicht bemerkt hat, sonst hätte er uns sicher was getan.«
Siri machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen. Sie wollte das nicht mehr hören, nichts davon. Sie wusste natürlich, warum er gegraben hatte, er hatte wissen wollen, ob jemand in dem Grab lag, es musste in der Zeit gewesen sein, in der sie ihn in dem Glauben gelassen hatte, sie wäre Iris und Iris wäre nie gestorben. Sie wusste auch nicht, was stimmte und was frei erfunden war von der Erzählung der Kinder.
Es war nicht wichtig.
Sie würde
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