Friedhofskind (German Edition)
gehört. Mein Herz macht es nicht mehr, und ich ersticke hier jämmerlich … jämmerlich in meinem eigenen Bett. Nicht einmal schnell und … würdevoll.«
»Wenn Sie mich jetzt bitten, Sie zu erschießen, werde ich das nicht tun.«
»Nein.« Annelie schloss die Augen. »Das … das hatte ich … befürchtet.«
»Aber … damals … Annelie … warten Sie! Iris! Der Strick! Wer hat sie im Boot festgebunden?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Annelie. »Niemand weiß es. In der Nacht, damals … er hat im Schlaf gesagt, er hätte sie so gefunden. Festgebunden, unter dem Boot. Wir werden nie herausfinden, ob es wahr ist.«
Ihr Kopf sackte zur Seite, und Siri schüttelte sie.
»Nicht einschlafen!«, rief sie. »Sie müssen … Sie müssen dem Dorf sagen, wie es wirklich ist … dass Lenz kein Mörder ist! Dass … Sie müssen …«
Doch Annelie antwortete nicht mehr. Sie atmete noch immer, hektisch und mühsam, aber das war alles. Siri wusste nicht, ob sie sich weigerte oder ob sie tatsächlich nicht mehr antworten konnte.
Da tippte jemand ihr auf die Schulter.
Es war Iris.
Sie zog sie wortlos vom Stuhl hoch, zog sie mit sich die Treppe hinunter. Sie rannte, und Siri rannte mit ihr.
»Wohin …?«, keuchte sie.
Aber sie kannte die Antwort. Zum Friedhof. Etwas war dort im Gange. Sie spürte es.
Das Dorf, hatte sie gedacht, wird sich selbst um seinen Mörder kümmern –
Sie schnappte sich nur den Mantel aus dem Auto. In seiner Tasche lag noch immer die Waffe.
† † †
Die Masse, die auf ihn zukam, war wie ein Tier. Lenz sah ihre Augen und hörte ihren Atem, und es waren keine Menschen, es war ein vielarmiges, vielbeiniges Wesen. Er wollte etwas sagen, ihnen etwas erklären, aber er konnte nicht. Er fand die richtigen Worte nicht, er fand gar keine Worte in sich. Bis auf das eine, unsinnige, nichtsnutzige: Nein.
Er ging rückwärts zwischen den Gräbern durch, die er ausgehoben und bepflanzt und gepflegt hatte, jahrelang, für sie, für die Leute. Er ging über seinen Friedhof, der war wie ein Garten, sein Garten, doch der Friedhof bot ihm keinen Schutz mehr; er ging an dem Schneehuhn vorbei, an der Eiche, auf der er mit Iris gesessen hatte … so oft … und etwas in ihm wisperte: nie wieder. Du wirst nie wieder mit Iris dort sitzen. Es ist vorbei, jetzt ist es vorbei. Da drehte er sich um und rannte.
Sie ließen ihn nicht weit kommen.
Kaminski packte ihn kurz vor der Kirchentür und hielt ihn fest – nicht allein, allein wäre er nicht stark genug gewesen, der Tapirmann und seine beiden Freunde halfen ihm.
Der Umbrich fand den Schlüssel zur Kirche in seiner Tasche.
Die Stille war vielleicht das Schlimmste. Die Leute handelten in einem stummen Einverständnis, sie brauchten nicht zu reden, alles war einfach, alles war klar.
Lenz wand sich, er schlug um sich, schrie sein Wort jetzt heraus, so laut er konnte:
NEIN ! NEIN !
NEIN !
Und manche seiner Schläge trafen, er spürte das Zurückzucken von Körpern. Aber sie waren zu viele, die ihn hielten, ihre gesammelte Kraft, ihre Wut war übermächtig.
Sie schoben ihn in die Kirche, zerrten ihn in den Mittelgang, wo mehr Platz war, und dann waren sie über ihm mit all ihren Fäusten und all ihrer Dunkelheit. Und er konnte den Schlägen nicht ausweichen. Der erste kam von Kaminski und machte sein linkes Auge für Momente blind, der Schmerz sang hinter der Augenhöhle und nahm ihm den Atem, aber sie ließen ihm keine Zeit, um nach Luft zu schnappen. Der zweite Schlag kam von dem Tapirmann und brach seine Nase, Lenz hörte das Splittern des Knochens. Ihm wurde übel, aber sie ließen ihm keine Zeit für Übelkeit. Der dritte Schlag kam von der Katzenfrau, er sah ihr hassverzerrtes Gesicht für Momente über sich, ehe ihre Faust ihn traf, sie schlug zu wie ein Mann, vielleicht zielgerichteter als ein Mann, und er fühlte, wie seine Lippe aufplatzte und Blut seinen Mund füllte, er würgte an dem Blut, doch sie ließen ihm keine Zeit für das Blut.
Er rollte sich zur Seite, krümmte sich auf dem Boden zusammen und versuchte, seinen Kopf, seinen Magen, seine Eingeweide mit den Armen zu schützen, aber er hatte keine Chance gegen sie, er spürte ihre Tritte – die der Fischerstiefel, der Ordnungshüter-Turnschuhe, die von Damenabsätzen. Er fragte sich für Sekunden, ob auch die Tritte von Kinderschuhen dabei waren, und als er sich das fragte, potenzierte sich der Schmerz, den sie ihm zufügten, auf undenkbar grausame
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