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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Weise.
    Er übergab sich, aber er wurde den Schmerz nicht los dadurch.
    Es ging alles sehr rasch. Und da waren noch immer keine Worte, alles, was Lenz hörte, war das Geräusch der Schläge und Tritte, wenn sie trafen, und den Atem der Masse über ihm – und sein eigenes Keuchen. Er hörte nicht mehr so gut, allerdings, da war auch Blut in seinen Ohren.
    Und in seinem Kopf stand sehr klar ein Wunsch:
    Lass es vorbei sein.
    Es ist in Ordnung, es gibt jetzt kein Zurück mehr, aber LASS ES VORBEI SEIN .
    Schließlich zog ihn jemand auf die Beine, und das verwirrte ihn für einen Moment, für einen Moment atmete er auf. Eine Pause, sie gönnten ihm eine Pause.
    Aber dann sah er das Fenster vor sich, das letzte Fenster, das ohne blaues Glas.
    Die Kreuzigung.
    Er sah – verschwommen, das Blut in seinem heilen Auge wegblinzelnd –, dass auch Frau Hartwig neben ihm dorthin sah – dass eine Menge Leute zu diesem Fensterbild sahen, nach wie vor schweigend.
    Es war Kaminski, der das Schweigen endlich brach.
    »So«, sagte er. »Man wird also bald wieder ohne Angst herumlaufen können im Dorf. Jemand muss dieses Land säubern von Mördern und Kinderschändern. Das Gesetz hilft den kleinen Leuten nicht dabei. Manche Dinge muss man selbst in die Hand nehmen.«
    Sie hielten ihn noch immer zu mehreren fest, zu dritt oder viert, er war nicht sicher, das Blinzeln half nicht mehr, da war zu viel Blut in seinem Gesicht. Er sträubte sich nicht mehr.
    Er dachte an Siri.
    Seltsam, es war ganz leicht, in all dem, was jetzt geschah, an sie zu denken, die Bilder tauchten ganz von selbst in ihm auf: Er erinnerte sich an den Tag auf dem Wasser, im Ruderboot, bei Sonnenschein. Ein wunderschöner Sommertag. Der Schmerz schoss mit jedem Atemzug durch ihn hindurch, er wurde nicht geringer, aber die Gedanken an jenen Sonnentag gaben ihm eine neue Qualität, eine Klarheit und Schärfe – als wäre der Schmerz nicht länger sinnlos. Es hat sich gelohnt. Alles hat sich am Ende, unter dem Strich, doch irgendwie gelohnt.
    Und beinahe lachte er, denn das war etwas, das sie ihm nicht nehmen konnten; diese Gedanken, diese Erinnerung, es war etwas, an das sie nicht herankamen. Sie waren lächerlich, sie waren ja lächerlich in ihrem Versuch, ihn zu zerstören.
    Es war Kaminski, der den Strick in der Hand hatte. Lenz nickte im Geiste. Natürlich, natürlich, der Strick. Auch das letzte Kirchenfenster zeigte einen Strick. Lenz hatte es zuerst für einen Lichtreflex gehalten, aber es war ein Strick. Er sah genauso aus wie der, mit dem Iris sich damals selbst im Boot festgebunden hatte.
    »Wir haben dich gewarnt«, sagte der Tapirmann.
    Nein, die Kreuzigung auf dem Fensterbild war keine Kreuzigung.
    Der Körper ohne Gesicht war anders mit dem Balken der Orgelempore verbunden.
    Hinten in der Kirche stand ein großer, klobiger alter Holztisch, es lagen irgendwelche Prospekte darauf über die Restaurierung des Dachgebälks. Kaminski wischte sie mit einer einzigen Handbewegung hinunter, das Geräusch des Papiers, als es zu Boden fiel, war winzig und merkwürdig bedeutsam. Sie trugen den Tisch bis unter den niedrigsten Schrägbalken der Orgelempore. Und in diesem Moment hörte Lenz etwas anderes in der Stille: Er hörte Musik. Die Erinnerung an Iris’ Musik. Sie schäumte von der Orgelempore herab, ergoss sich in den Kirchenraum und füllte ihn wie Wasser.
    Er hob das Gesicht, sah die leere Empore an und lächelte.
    Iris war nicht da, es war nur seine Erinnerung, aber das reichte vollkommen aus.
    Sie zerrten ihn auf den Tisch.
    Er stand ganz ruhig dort oben, noch immer von zwei der Männer festgehalten; blickte zu den Leuten hinunter und lächelte vielleicht noch immer. Sie wussten ohnehin, dass er verrückt war, es gab keinen Grund, nicht zu lächeln.
    Er sah die Frauen da unten stehen, er sah Lena mit dem Baby. Ihr Gesicht war hart wie Metall. Das Baby schlief in ihren Armen. Lenz merkte, wie zwischen dem Blut eine dumme Träne über sein Gesicht lief, die nicht alleine bleiben wollte. Hätte das Baby nicht so friedlich geschlafen, hätte er vielleicht nicht geweint. Kaminski hob den Strick; die Schlinge darin war bereits geknüpft. Und dann gab es einen Moment des Innehaltens.
    »Werter«, sagte Kaminski.
    Das Dorf teilte sich, machte eine Gasse frei für Werter. Die letzte Instanz. Er stand nur da und sah zu Lenz hinauf und zu Kaminski und seinen beiden Freunden.
    Sein Gesicht war alt, älter als zuvor, und traurig.
    Er nickte.
    »Schuldig«, sagte

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