Friedhofskind (German Edition)
ihn zu Gesicht bekommen.«
»Ach«, sagte Siri und kam sich ausgesprochen dumm vor.
Sie blieb stumm stehen, bis das Wasser kochte. Vor dem Küchenfenster führte eine schmale Straße den Hügel hinunter ins Dorf. Siri sah jemanden am Ende der Straße um die Ecke biegen.
Und dann sah sie noch etwas.
Sie sah das Mädchen im blauen Kleid.
Es kroch aus einer Hecke und lief der anderen Person hinterher, den Weg hinunter, mit fliegendem Rocksaum – das ganze Kind war nichts als Bewegung, ein Wirbel aus Farben und Schritten. Und dann war es fort.
Hinter Siri klapperte Geschirr. Es roch jetzt nach frischem Kaffee.
»Sie stehen ja da wie er!«, sagte Frau Ammerland. »Er steht auch immer am Küchenfenster. Er wartet auf die verschwundenen Personen.«
Sie drückte Siri ein Tablett in die Hand. »Sie frühstücken doch mit mir?«
Aber Frau Ammerland wartete die Antwort nicht ab, sie ging voran durch ein Wohnzimmer, in dem goldenes Sonnenlicht erwachte, bis auf eine kleine Veranda, deren Glaswände kühl und silbern leuchteten. Draußen turnten Singvögel durch die Äste gelber Forsythienbüsche. Frau Ammerland goss Kaffee ein.
»Also?«
Für einen Moment hatte Siri vergessen, weshalb sie hier war. In ihrem Kopf gab es nur einen einzigen Satz: Sie stehen ja da wie er.
»Ich … ich habe den Auftrag, neue Kirchenfenster anzufertigen«, begann sie, sich zusammenreißend, »die thematisch den alten entsprechen. Aber das haben Sie sicher schon gehört … Ich habe jetzt Beschreibungen von drei Fenstern: die Geburt Christi oder vielleicht die Flucht nach Ägypten, die Vertreibung der Pharisäer aus dem Tempel und eine Szene, in der Jesus zu Maria Magdalena geht. Ich … bin nicht besonders bibelfest, aber ich habe die Stellen nachgelesen. Gehen Sie zur Kirche?«
»Bisweilen«, sagte Frau Ammerland. Sie nahm ihre Tasse samt Untertasse und trank ihren Kaffee in kleinen, bedächtigen Schlucken. »Vor ’89 natürlich nicht. Ich war Sekretärin in der Fischfabrik, in der Stadt … keine Stelle, die man gefährden möchte … und nach ’89 dann eher aus kulturellen Gründen. Ich meine, ich gehe aus kulturellen Gründen zur Kirche. Glauben tue ich nur an meine Blumenzwiebeln und die Keksrezepte.«
Sie lächelte, irgendwie mehr höflich als ehrlich, fand Siri.
»Sind Sie von hier?«, fragte Frau Ammerland. »Oder … wie sagt man das korrekt … aus den … alten Bundesländern?«
Siri trank einen Schluck Kaffee, ohne ihn zu schmecken. »Ich bin in Angola aufgewachsen.«
Frau Ammerland sah sie einen Moment seltsam an. Dann lehnte sie sich plötzlich vor und fragte: »Und? Gibt es Veranden?«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts.« Sie sank wieder in ihren Stuhl zurück. »Wir haben uns das nur immer ausgemalt, dass jedes Haus in Afrika eine Veranda vor der Tür hat. Mit Schaukelstühlen. Wir haben uns immer Dinge ausgemalt …« Und, ehe Siri fragen konnte »Wer – wir?« , fügte sie hinzu: »Da war etwas mit Totenerweckung.«
»Toten…?«
»Jesus erweckt einen Toten. Das war das vierte Fenster. Wenn Sie eine Reihenfolge haben wollen, einmal um die Kirche herum. Ich erinnere mich daran, weil ich immer dachte, wie gut es zum Friedhof passt. Die Kirche an sich hat ja seit Ewigkeiten eigentlich keine Funktion mehr, nur der Friedhof wird benützt. Sterben tun die Leute auch, ohne zu glauben. Selbst die besten Sozialisten, hört man, leben nicht ewig. Man traf sich also nur zu Beerdigungen bei der Kirche, wenn der alte Fuhrmann wieder eine Grube aushob und ein Sarg hinabgelassen wurde, mit einem stillen, artigen Toten darin. Und an der Seite der Kirche, vor der die meisten Gräber sind, war dieses Fenster, auf dem Jesus genau so einen stillen Toten wieder ins Leben rief, also das Gegenteil von dem, was wir unten taten. Das war schon seltsam.« Sie schmierte Marmelade auf ein Brötchen. »Pflaume, aus dem Garten. Selbst geerntet.«
»Machen Sie das allein, mit der Pflaumenernte? Herr Fuhrmann hat gesagt, Sie wären herzkrank …«
»Sieh einer an, hat er das gesagt.« Frau Ammerland lächelte still in sich hinein wie über einen sehr privaten Witz. »Nein. Mein Herz tickt zuverlässig wie eine Uhr. Kann sein, es geht nach, zwei Monate vermutlich. Das Fenster … im Vordergrund waren Jesus und der erwachende Tote, der da auf einer Art Bahre lag, und hinten standen die Leute, erstaunte Leute und ängstliche Leute. Leute eben.« Sie nickte. »Unter dem Fenster ist ein Vorsprung in der Mauer, wegen der ungleich
Weitere Kostenlose Bücher