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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hörte der Zeit beim Tropfen zu, mit schief gelegtem Kopf. Auf einmal sah Siri, wie schütter ihr weißes Haar war; es musste eine Menge Mühe kosten, es so zu frisieren, dass die lichten Stellen durch die Dauerwelle verborgen wurden.
    »Ja«, sagte sie schließlich, stellte die Kaffeetasse ab und sah auf ihre Hände: Landkarten voller Venen und Altersflecken. »Ja, das ist sie. Es war ein Unfall.«
    »Ein Unfall.«
    »Am Ende des Sommers. Sie ist mit dem Ruderboot hinausgefahren, ganz alleine. Sie wusste nicht, dass es Sturm geben würde. Sie war erst sechs Jahre alt; sie konnte die Zeichen auf dem Wasser nicht deuten. Keiner weiß, was sie da draußen wollte. Sie haben sie am nächsten Morgen gefunden, im Schilf. Sie trug ein altes Hemd von Lenz.«
    »Das blaue Kleid, das sie anhat …«
    »Auf der Scherbe, meinen Sie? Weil der Umbrich gesagt hat, dass sie aussieht wie die Frau auf der Scherbe?«
    Nein, dachte Siri. Das blaue Kleid, das sie trägt, wenn ich sie sehe. Aber das sagte sie nicht.
    »Sie haben sie in einem blauen Kleid begraben«, sagte Frau Ammerland. »Vielleicht ist es das, woran der Umbrich sich erinnert. Sie wollte hier begraben werden, sie hatte das gesagt, irgendwann, wie Kinder eben Dinge sagen. Ihr Vater hat ihr diesen letzten Wunsch erfüllt.«
    »Aber der Unfall … die Leute glauben, Lenz Fuhrmann hatte etwas damit zu tun.«
    Frau Ammerland sah auf die Uhr. »Der Pfingstgottesdienst beginnt in einer Viertelstunde. Helfen Sie mir auf? Manchmal machen die Knie nicht mehr mit.«
    Siri sprang auf und reichte ihr einen Arm, und sie zog sich daran aus dem Stuhl.
    »Iris … und dieser Unfall …«
    »Sie war nicht die Einzige.« Frau Ammerland sah nach draußen, zu den blühenden Forsythienbüschen.
    »Nicht die einzige was ?«, fragte Siri.
    »Nicht die Einzige, die man mit Lenz in Zusammenhang bringen kann … und die auf merkwürdige Art bei einem Unfall starb. Kommen Sie. Wir sind spät dran.«

6
    Er stand ganz hinten in der Kirche, er saß nie; die Bänke waren nicht für jemanden geschaffen, der zwei Meter groß war, und es gab ihm ohnehin ein besseres Gefühl, zu stehen. Er konnte gehen, wenn er wollte. Er kam zu spät wie in jedem Gottesdienst, damit die Leute nicht an ihm vorbeigingen und ihn ansahen.
    Da saßen sie also alle, die Leute, und lauschten dem jungen Pfarrer, der motiviert und erfüllt war von etwas, das niemand außer ihm selbst begriff. Die Leute waren nicht die Leute aus dem Dorf, aber es waren dennoch Dieleute, Dieleute waren alle gleich, sie hatten etwas Einförmiges, Breiförmiges, etwas Eingekochtes wie Annelies Marmelade. Von denen aus dem Dorf waren nur wenige da, die meisten hatten lediglich die Grabsteine poliert und sahen nun von ferne zu, wie andere kamen, um einen Gottesdienst in einer schönen alten Kirche zu erleben.
    Weder die Leute aus dem Dorf noch die Leute von weit-weg wussten, wie ähnlich sie sich waren.
    Beinahe musste Lenz darüber lachen.
    Mitten im Einheitsbrei steckte die glückliche Familie des Professors. Der kleine Junge aß einen Keks. Vielleicht bildete er sich diese Familie nur ein, vielleicht war sie eine Art Wunschgedanke. Annelie war da, aber der Glühweinkessel, den der Umbrich am Vortag in die Kirche geschleppt hatte, stand verwaist da. Frau Henning hielt die Stellung als Abgeordnete der Kuchenfraktion. Annelie trug jetzt einen Mantel und eine Strickjacke über dem Aprikosenkleid. Die Kirche war kalt, sie war immer kalt, auch im Juli, auch im August – und während der erfüllte Pfarrer sprach, dachte Lenz darüber nach, ob alle Winter, die vergingen, ihre Kälte in der kleinen, alten Kirche zurückließen. Oder war es erst seit dem Tag so kalt in der Kirche, an dem Winfried und er Maiglöckchen auf ein kleines Grab gepflanzt hatten, dessen Anblick ihm die Kehle zuschnürte?
    Er sah zu Annelie hinüber. Annelie sah in ihr Gesangbuch. Gewöhnlich hielt er sich fern von ihr, wenn sie nicht Teil ihres Hauses, Teil ihres Gartens war.
    Vielleicht hatte er Angst um sie.
    Ihr Haus war immer ein sicherer Hafen gewesen, zu dem er kam, wenn es nicht mehr anders ging. Wenn er nicht mehr allein sein konnte. Und dann lebte er wieder eine Weile ohne sie, bis etwas geschah und er zur ihr zurückkehrte. Aber er konnte nie ein Teil ihrer Welt aus Blumenbeeten und Keksen werden; die klebrige Dunkelheit von Winfrieds Haus haftete an ihm wie Teer. Er wollte Annelie nicht hinabziehen in den Teer.
    Der Pfarrer sprach von Pfingsten. Von der frohen

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