Friedhofskind (German Edition)
Botschaft. Lenz hatte keine frohe Botschaft erhalten. Das Fenster hinter dem Altar war blank und groß und farblos.
»Warum kommst du überhaupt her?«, fragte Iris, die neben ihm stand und auf den Zehenspitzen wippte. »Was willst du hier, wenn du nicht dran glaubst?«
»Gucken«, antwortete Lenz.
»Wie ich am Zaun, bei dem Trampolin?«
»Ja, vielleicht«, sagte er und merkte, dass mehrere Leute in der letzten Reihe sich umgedreht hatten, um ihn anzustarren. Er stand hier und sprach laut mit sich selbst. Na und? Er starrte zurück, und sie wandten sich wieder ab, ängstlich.
Geh aus, mein Herz, und suche Freud.
Der Pfarrer, jung und neu in der Gegend, wusste vielleicht nicht, dass sie dieses Lied auf jeder Beerdigung sangen. Sie hatten es auch damals gesungen, vor zweiunddreißig Jahren, am Rand jener kleinen Grube, aus der das Himmelblau eines Sonntagskleides strahlte.
Zu dieser schönen Sommerszeit
an deines Gottes Gaben
Sieh an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben … sich ausgeschmücket haben.
Er sang nicht mit. Er hatte das Lied nach Iris’ Beerdigung nie mehr gesungen.
Sie – sie sangen schrecklich, er hörte jeden falschen Ton. Seit Iris auf der Orgel gespielt hatte, hörte er diese Töne. Sie sagte immer, es wäre irgendwie rührend, wie die Leute sangen. Er konnte Dieleute nicht rührend finden.
Er schloss die Augen, um durch die falschen Töne hindurch die Orgel zu hören. Die Orgel, die so selten gespielt wurde und die ihn so sehr an jenen Sommer erinnerte. Die Organistin kam für jeden Gottesdienst aus der Stadt: eine verhärmte Frau, die niemals lachte und immer fror.
»Ich will sehen, wie sie spielt«, flüsterte Iris. »Komm. Von weiter vorne sieht man über das Geländer der Empore.«
Sie zog ihn an der Hand mit sich, durch den Mittelgang nach vorne – sie gingen beide rückwärts, den Blick zur Orgelempore erhoben. Und Lenz vergaß für Momente, dass er, im Gegensatz zu Iris, sichtbar war. Es gab Tage, an denen vergaß er das.
Als das Lied versiegte, wurde es für einen Moment sehr still in der Kirche. Die Leute sahen Lenz an, der alleine und ohne erkennbaren Zweck im Gang zwischen den Bänken stand. Er zuckte die Schultern – und dann sah er die Fensterfrau.
Sie saß direkt am Gang, ungefähr in der Mitte der Kirche.
»Vielleicht … wenn Sie sich jetzt setzen würden …«, sagte der Pfarrer zu Lenz, verunsichert.
Doch es gab keine freien Plätze. Die kleine Kirche war heute tatsächlich beinahe voll. Die Masse rückte nicht, starrte ihn nur weiter an, der nachgiebige Brei wurde zu einer feindlichen Phalanx aus peinlich berührten, vielleicht auch ängstlichen Blicken.
Da hob die Fensterfrau ihre schmale Hand und winkte Lenz. Sie rutschte ein Stück zur Seite, zwang ihren Nachbarn, sich kleiner zu machen, und Sekunden später saß Lenz neben ihr, in einer unbequemen und zu kleinen Kirchenbank.
Der Pfarrer atmete auf und begann mit seiner Predigt.
Lenz hörte nicht zu. Er sah die Hände der Fensterfrau an, die jetzt in ihrem Schoß lagen, auf geblümtem Regenmantelstoff. Ihre Hände sahen so verloren aus und ihr Körper so klein.
Natürlich war sie nicht verloren, er wusste von Frau Hartwig, dass sie jeden Abend mit einem Mann telefonierte, der sie liebte, und dass sie eine Menge schöner Dinge mitgebracht hatte, in deren Mitte sie in dem Kellerzimmer lebte. Sie ruhte in sich selbst, sie besaß eine eigene, helle, bunte Welt, die sie überallhin mitnahm. Sie war klein, gut, aber sie war klein und stark. Viel stärker als er.
Wie kam es, dass er plötzlich den Wunsch verspürte, seinen Arm um sie zu legen, als wäre sie Iris?
Er schimpfte sich im Stillen einen Idioten.
Und dann, mitten in der Predigt, wurden die Kirchentüren aufgestoßen.
Lenz drehte sich um. Alle anderen drehten sich ebenfalls um. Der Pfarrer sprach weiter, sprach zu ihren Rücken, doch man merkte, wie er aus dem Konzept geriet.
»Der alte Fuhrmann«, hörte Lenz Frau Henning flüstern. »Was zum Teufel macht der hier? Der war sein Lebtag nich in der Kirche …«
Winfried ging ein paar Schritte vorwärts, auf seine Krücke gestützt, ging in den Mittelgang hinein wie zuvor Lenz. Seine Schritte waren unsicher und taumelig, wie der Flug eines zerstörten Schmetterlings. Im ersten Moment dachte Lenz, er wäre betrunken. Er hatte eine Hand vorgestreckt, tastend …
»Ist der Junge hier?«, fragte er, Panik in der Stimme.
Da begriff Lenz, dass
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