Friedhofskind (German Edition)
wanden sich mehr Wortinsekten aus seinem Mund.
»Jemand«, sagte er. »Jemand hat …«
Siri schwieg. Wartend. Es war unfassbar kalt in der Kirche.
»Die Stufen. Jemand hat mich …«
»Gestoßen?«
Der Umbrich führte mühsam eine Hand zum Mund und wischte das Blut ab. Sie war sich nicht sicher, ob er genickt hatte.
»Nicht so viel erzählen«, flüsterte er. »Ich hab zu viel erzählt.«
»Wer hat das gesagt?«, flüsterte Siri. »Fuhrmann?«
»Hab … die Stimme nicht erkannt«, wisperte der Umbrich. »Jeder kann … seine Stimme verstellen. War … dunkel. Der Strom war weg. Sie … sie sagen, der Fuhrmann hetzt die Toten auf einen …« Er klammerte sich an Siris Arm und legte seine blutige Stirn gegen ihre Schulter, erschöpft von zu vielen Worten. Er sagte noch etwas, und sie verstand ihn jetzt kaum noch.
»Was?«
»… kein Toter«, wiederholte er, dicht an ihrer Schulter, die feucht und warm wurde von Blut und Speichel. Der Umbrich holte tief Luft, der Atem pfiff durch seine Lungen wie der Wind. »Tote … haben keine Pistolen.«
»Wie?«, fragte Siri, ungewollt laut.
»Helfen … helfen Sie mir«, flüsterte der Umbrich. »Nach … Hause.«
»Natürlich«, sagte Siri, bemüht ruhig. »Ich bringe Sie hin. Und da erzählen Sie mir alles noch mal ganz in Ruhe. Ich verstehe nicht …«
»Ich … auch nicht«, wisperte der Umbrich. »Aber erzählen … tu ich nich mehr. Hab die Warnung verstanden.«
† † †
Die Narzissen und Krokusse, Tulpen und Hyazinthen in Annelies Garten hatten ihre Blüten geschlossen und ihre Farben im Tageslicht zurückgelassen; die Vögel schliefen in den Ästen.
Lenz ging lautlos über das taufeuchte Gras und klopfte an die Glaswand der Veranda.
Es dauerte einen Moment, bis er drinnen etwas hörte, und einen weiteren Moment, bis Annelie zur Verandatür kam, in Nachthemd und Bademantel.
»Junge, hast du mich erschreckt«, sagte Annelie. »Was ist passiert? Komm rein.«
»Warst du schon im Bett?«
»Ja. Aber ich habe noch gelesen.«
Sie schloss die Verandatür hinter ihm, schloss die kühle Nachtluft aus.
Er sah, dass sie dennoch fror. Das Nachthemd war dünn und der Bademantel nicht besonders lang, er sah Annelies Beine darunter, zwei dünne und altersfleckige Unterschenkel, blass, von Adern durchzogen und dennoch zäh und muskulös wie die einer jüngeren Frau. Sie war barfuß, und aus irgendeinem Grund verlieh ihr das etwas beinahe Mädchenhaftes.
Sie schlang den Bademantel enger um sich, zitternd.
»Geh zurück ins Bett«, sagte Lenz. »Du darfst dich nicht erkälten. Wenn man über achtzig ist, sollte man sich nicht erkälten. Tut mir leid, dass ich dich gestört habe.«
Annelie musterte ihn einen Moment, ernst.
»Wir machen es so: Ich werde zurück ins Bett gehen, und du setzt dich zu mir und erzählst, was du auf dem Herzen hast.«
Annelies Schlafzimmer lag im ersten Stock; er half ihr die Treppe hinauf. Das Haus war zu groß für Annelie. Sie hatte immer eine Familie haben wollen, einen Mann und Kinder, aber sie hatte nie den Richtigen gefunden. Für die Leute aus dem Dorf las sie zu viel, wusste und dachte zu viel, sie hatte in der Stadt gearbeitet, früher, sie war Sekretärin in der Fischkonservenfabrik dort gewesen …
Seit er sie kannte, lebte sie alleine in dem zu großen Haus, alleine mit ihren Blumenzwiebeln, ihren Keksrezepten und ihren Büchern.
»Wir sind alle auf unsere eigene Art einsam«, murmelte Lenz und dachte an die Frau hinter dem Zaun. Und dann saß er auf dem Stuhl neben Annelies Bett und sah zu, wie sie den Bademantel auszog, ihr zu dünnes weißes Nachthemd sehr sorgfältig glatt strich und schließlich die Decke über sich zog.
»Musste es gerade die Fensterfrau sein, die vorbeikam?«, fragte er, zusammenhanglos. »Ich weiß, was sie denkt. Ich weiß, was sie alle denken, aber die anderen haben es immer schon gedacht …«
Dann zog er die Beine an, wie Kinder es tun, und erzählte Annelie von dem hohen grünen Zaun, hinter dem sie die Schwerelosigkeit auf einem Trampolin gefunden hatte.
»Iris wollte den Kindern unbedingt beim Trampolinspringen zusehen«, schloss er. »Manchmal wünscht sie sich, so zu sein wie andere Kinder.«
»Genau wie du«, antwortete Annelie und lächelte und legte ihre Hand auf seine. »Genau wie du damals.«
»Das ist lange her«, sagte Lenz. »Iris … wenn sie hier ist, im Sommer … ich frage mich, ob sie unglücklich ist. Sie hat mich, aber nur mich. Sie kann niemals
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