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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ein adrettes, sauberes Kleid. Die ersten Bäume verloren ihre Blätter, der Wind wirbelte sie durch die Luft wie die Apfelblüten.
    Lenz stand auf dem Sandweg und wusste, dass er Iris nie wiedersehen würde.
    In seinem Rücken spürte er die kühlen Schatten des Friedhofs. Er würde wieder alleine dort sitzen. Er würde seinen Eltern erzählen, wie Iris in das Auto gestiegen war.
    Die Türen schlossen sich, er sah Iris’ Gesicht am Fenster … und dann erhoben sich die Herbstblätter in einer plötzlichen Windbö und wirbelten alles mit sich fort: das Auto und die Fensterscheibe und Iris’ Augen … als die Blätter sich legten, war der Sandweg leer. Zu Lenz’ Füßen aber lag, mitten im Herbstlaub, ein Foto. Er hob es auf, in der Hoffnung, darauf Iris zu finden.
    Aber das Foto war alt, schwarz-weiß, verblichen und zerkratzt: Es war das Bild von Lotte, die auf der Schaukel saß und in die Kamera lächelte.
    »Lenz«, sagte jemand hinter ihm. »Du siehst ihr ja ähnlich … wie ähnlich du ihr siehst!«
    Die Stimme gehörte der Fensterfrau, und da wusste Lenz, dass er träumte. Er spürte Annelies Schlafzimmerteppich unter sich und glitt in einen tiefen, dunklen Schlaf.
    »Lenz? Lenz?« Jemand rüttelte ihn sanft an der Schulter, und er blinzelte.
    Der Raum, in dem er sich befand, roch nach Frühling, hell und leicht und sauber.
    »Annelie?«, murmelte er, noch nicht ganz wach. Er war mit Iris über die Felder gerannt … er hatte sie in ein Auto steigen sehen … Und statt der Frage »Wo bin ich?« lag ihm eine andere Frage auf den Lippen. Wann bin ich? Oder besser: wie alt ?
    Annelie kniete vor ihm, bereits angezogen, sie trug eines der Frühlingskleider, die sie jünger wirken ließen: aprikosenfarbene Seide.
    »Lenz? Wir haben Besuch. Sie hat schon fünf Mal geklingelt, und diesmal kann ich nicht so tun, als wäre ich nicht da. Sie hat mich gesehen. Am Badezimmerfenster.«
    Er fuhr hoch, mit einem Mal wach. » Sie? Wer – sie ?«
    »Das weißt du genau«, sagte Annelie und fuhr mit zwei Fingern über seine Wange, eine rasche und flüchtige Berührung wie die eines Schmetterlings. »Soll ich sie hereinlassen?«
    »Nein«, sagte er. »Verdammt. Ja. Du kannst sie nicht ewig draußen stehen lassen. Aber …« Er rappelte sich auf. »Warte, bis ich weg bin. Ich gehe durch die Verandatür.«
    »Darf sie dich denn nicht hier sehen?«, fragte Annelie verwundert – oder nicht verwundert. »Lenz … was soll ich ihr erzählen?«
    »Erzähl ihr etwas über die Kirchenfenster«, sagte er, schon auf der Treppe nach unten. »Dann kriegt sie sie fertig und geht.«
    »Willst du das noch immer, ja?«, fragte Annelie. »Willst du, dass sie geht?«
    Er drehte sich noch einmal um und sah Annelie an, die in ihrem Aprikosenkleid am Kopfende der Treppe stand. Das Licht in ihren weißen Haaren war beinahe zu hell.
    Er wollte etwas sagen – darüber, dass er natürlich wollte, dass die Fensterfrau verschwand, oder darüber, dass er es natürlich nicht wollte. Doch dann schüttelte er nur den Kopf und beeilte sich, das Haus zu verlassen.
    †   †   †
    »Mein Name ist Siri Pechton«, sagte Siri und versuchte, höflich und offiziell zu klingen. »Ich komme … wegen der Fenster.«
    »Ich habe niemanden bestellt wegen der Fenster«, sagte Frau Ammerland und zog den wollenen Strickmantel enger. Das Kleid, das sie daruntertrug, schien zu dünn für die Jahreszeit. Siri schätzte Frau Ammerland auf ungefähr siebzig, aber sie war die Sorte siebzig, die nach siebzig nicht mehr weiter alterte. »Meine Fenster sind alle heil.«
    »Ich meine nicht Ihre Fenster. Ich meine …« Siri stockte. »Sie nehmen mich auf den Arm. Sie haben mich genau verstanden.«
    Frau Ammerland lächelte. »Kommen Sie herein.«
    Sie hielt die Tür ein wenig weiter auf, aber nur ein wenig. »Es ist früh für einen Sonntag. Vor allem für einen Pfingstsonntag. Kaffee? Sie hoffen, dass ich Ihnen etwas darüber sagen kann, was auf den Kirchenfenstern zu sehen war.«
    »Ja. Herr Fuhrmann hat gesagt, ich sollte zu Ihnen kommen.«
    »Herr … Fuhrmann … der junge Fuhrmann?«
    Siri nickte. »Den Alten habe ich bisher nicht zu Gesicht bekommen. Er scheint genauso selten zu Hause zu sein wie Sie.«
    »Wir … gehen zusammen zum Heimatgesangsverein«, sagte Frau Ammerland und zündete die Gasflamme an, um Kaffee zu kochen.
    »Wie bitte?«
    Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie’s. Das war … Ironie. Sie verstehen es vielleicht, wenn Sie

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