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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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großen Feldsteine. Da saß unser Friedhofskind gerne, genau unter dem nicht mehr ganz toten Toten, das gab dem Ganzen etwas … Abstruses. Er ist seinem Onkel ja überallhin nachgelaufen, sobald er laufen konnte, er war auf jeder Beerdigung, und irgendwann schien er sozusagen auf dem Friedhof zu wohnen … noch Kaffee?«
    Siri nickte und sah zu, wie Frau Ammerland eingoss. Ihre Hand zitterte kaum merklich, vermutlich nur deshalb, weil die Kanne schwer war.
    »Warum haben Sie diesen Auftrag angenommen?«
    »Es … schien eine Herausforderung zu sein«, antwortete Siri, zögernd. »Und ich musste raus. Aus der Stadt. Ich habe die letzten Jahre in Großstädten verbracht. Ein Dorf am Meer, auf einer Insel … es hörte sich so romantisch an.«
    »Romantisch«, wiederholte Frau Ammerland. »Ist es das?«
    »Die Landschaft ist … sehr schön«, sagte Siri. Und die Schatten sind sehr dunkel.
    »Sie haben gesagt, ich stehe am Fenster wie er«, sagte sie leise. »Lenz Fuhrmann. Irgendetwas … hat er mit den Fenstern zu tun. Ich weiß nicht, was. Ist er … ist er oft hier?«
    Frau Ammerland zuckte die Schultern. »Ab und zu besucht er mich. Als wir zum ersten Mal miteinander sprachen, war er sechs Jahre alt.« Mit einem Mal war ihre Stimme leiser geworden, leichter.
    »Es war an der Bushaltestelle, unten, wo die Dorfstraße auf die Landstraße stößt. Er kam von der Schule. Ich war mit dem Rad unterwegs. Ein paar ältere Kinder schubsten ihn aus dem Bus, ich höre noch ihr Gejohle … Hier musst du aussteigen!, riefen sie, oder so ähnlich. Einem, der nicht so helle ist, muss man ja helfen, oder? Und er fiel, die Hände ausgestreckt, auf den harten Boden. Dann saß er da, ganz allein, und starrte ins Nichts. Er war damals schon groß für sein Alter und kräftig von der Arbeit im Freien, hat seinem Onkel geholfen beim Gärtnern und Gruben ausheben. Aber er hat sich nie gewehrt. Auch später nicht. Ich habe ihn aufgesammelt, da an der Bushaltestelle. Seine Knie bluteten. Er trottete hinter mir her wie ein gefundener Hund. Zu Hause habe ich ihm ein Brot geschmiert und mich mit ihm über dies und das unterhalten, nicht über die Kinder im Schulbus, sondern über die Pflanzen im Garten. Als er ging, hat er mich angelächelt. Da wusste ich, dass er wiederkommen würde. Er kommt noch immer her. Immer dann, wenn alles schiefgeht.«
    Siri merkte, dass sie schluckte.
    Da war es wieder, das Kind zwischen Grabsteinen. Das Kind, das sie gezeichnet hatte und das nicht aussah wie Jesus. Friedhofskind.
    »Aber … seine Eltern?«
    »Dritte Reihe viertes Grab.« Frau Ammerland rührte in ihrer Tasse. »Inzwischen sind die Gräber natürlich eingeebnet. Ich glaube, die Steine gibt es noch. Lenz war kein halbes Jahr alt, als seine Eltern gestorben sind. Damals hat es angefangen, das Gerede der Leute über das Unglückskind …« Sie sah Siri an, und die Tür zur Vergangenheit in ihren Augen fiel zu. »Und wie kommen Sie darauf, dass das alles etwas mit den Fenstern zu tun hat?«
    Siri zuckte die Schultern. »Es ist nur so ein … Gefühl.« Und dann wagte sie einen Schuss ins Blaue. »Herr Umbrich«, sagte sie, »hat mir eine Scherbe gegeben, von einem der Fenster …«
    Sie musterte Frau Ammerland aufmerksam.
    Herr Umbrich, dachte Siri, liegt sein gestern Nacht im Krankenhaus. Sie wissen das, ich weiß, dass Sie es wissen, jeder hat mitbekommen, dass der Notarzt hier war, mit dem der Umbrich eigentlich nicht mitfahren wollte. Wer hat den Umbrich die Treppe hinuntergestoßen, damit er den Mund hält? Ist hier der Zusammenhang mit Lenz Fuhrmann?
    Frau Ammerland sagte nichts. Sie drehte nur ihre leere Kaffeetasse in den Händen.
    »Der Umbrich meinte, das Mädchen, das auf der Scherbe dargestellt ist … dass sie ein bisschen aussieht wie das kleine Mädchen, das mit Lenz Fuhrmann herumläuft. Iris, glaube ich? Iris … Weiß? Herr Fuhrmann sagte, die Eltern haben eine Datsche unten beim Steg, und sie kommt jeden Sommer?«
    »Jeden Sommer.« Frau Ammerland nickte. »Im Herbst muss sie fort.« Sie zögerte. »Manchmal bringt er sie mit. Sie mag meine Kekse. Ein nettes Mädchen …« Ihre Stimme verebbte.
    Siri ließ ein oder zwei Minuten verstreichen. Irgendetwas tropfte währenddessen, Wasser vielleicht, aus einem Wasserhahn, oder Zeit, die durch irgendeine Uhr rann. Oder Leben.
    »Frau Ammerland«, sagte Siri schließlich. »Iris Magdalena Weiß ist tot. Sie ist seit über dreißig Jahren tot.«
    Frau Ammerland schwieg und

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