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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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auf einem Trampolin springen wie das Mädchen mit den rosa Haarsträhnen …«
    »Das kann sie nicht«, sagte Annelie. »Und eines Tages wird sie vielleicht gehen.«
    »Nein«, sagte er, sehr rasch und sehr entschlossen.
    Annelie sagte nichts.
    »Damals, Annelie … damals ist sie auch gegangen. Ich habe dich schon einmal gefragt, was passiert ist. Du wolltest nicht antworten.«
    »Lenz … ich weiß nicht, was passiert ist. Niemand war dabei, niemand außer dir. Die Wahrheit liegt immer im Auge des Betrachters. Du hast dreißig Jahre lang nicht gefragt …«
    »Richtig. Dreißig Jahre sind genug. Jetzt will ich es wissen.«
    Sie nickte, zögernd. »Mach das Licht aus«, sagte sie dann, sehr leise. »Meine Augen sind müde.«
    Lenz gehorchte. In der Dunkelheit war er ihr näher.
    Vor dem Fenster stand, kaum auszumachen in der Nacht, eine magere Gestalt in einem geblümten Regenmantel. Lenz wusste, dass er sie sich nur einbildete, und blinzelte sie weg. Sie hatte sich in seinem Herzen festgesetzt, die Gestalt im Regenmantel, und das machte ihm Angst. Sie war zu sehr wie Iris. Es waren nicht nur ihre Augen.
    Gefährlicher wär es vielleicht , hatte Aljoscha gesagt, er würde Sie mögen …
    »Es begann im Frühling«, flüsterte Annelie. »Der Wind trug die ersten Blütenblätter der Apfelbäume zum Meer hinunter, als das Auto die Straße entlangfuhr. Ein Auto mit einem Berliner Kennzeichen. Der Mann am Steuer war wichtig . Es hieß, sie würden ins Ausland gehen, aber diesen einen Sommer hatte man ihnen noch geschenkt, einen Sommer auf dem Land. In einer eigenen Datsche, unten am Wasser. Na, von dem Mann und der Frau hat man nicht viel gesehen. Er war zwischendurch oft in Berlin, und sie saß hinter ihrem Zaun und hat gelesen, versteckt hinter einer großen Sonnenbrille. Aber das Mädchen, Iris … Iris war überall. Sie wirbelte durchs Dorf wie ein Lichtfleck, es war gerade so, als wäre sie selbst ein Blütenblatt. Am Anfang war sie noch fein angezogen, eine richtige kleine Dame. Die Mutter steckte ihr gern die Haare auf. In der Stadt hatte sie getanzt und Klavier gespielt, sie war talentiert … und hier sollte sie auf der Orgel üben, in der Kirche. Und sie hat geübt, brav und alleine.
    Aber draußen auf dem Friedhof saß ein abgerissener kleiner Junge. Ein Junge, der nicht spielen konnte. Wenn er alleine war – und das war er oft –, legte er Muster aus Kieselsteinen auf die Grabsteine und sprach vor sich hin. Die Leute sagten, er spräche mit den Toten.
    Und dann habt ihr euch getroffen, Iris und du, und es hat nicht lange gedauert, da war es aus mit dem Orgel-Üben und aus mit dem Alleinsein. Ihr wart von Anfang an eine Einheit, wie zwei Hälften, die sich endlich gefunden haben. Wenn ihr still saßt, saßt ihr zusammen still, manchmal stundenlang, vor einem Grab oder in einem Baum. Aber wenn ihr nicht still saßt, ranntet ihr über die Felder wie die Wilden. Und aus war es mit dem damenhaften Auftritt. Iris’ Mutter machte ein paar Versuche, Frisur und Kleider zu retten. Dann gab sie es auf und zog sich hinter ihre Sonnenbrille und ihre Bücher zurück. Und Iris und du, ihr wart glücklich. Ich habe dich zum ersten Mal wirklich glücklich gesehen … manchmal seid ihr zu mir heraufgekommen; ihr hattet eine Schaukel am Pflaumenbaum, und ich ließ euch schaukeln und wild sein. Wir haben Feuer im Garten gemacht … erzähl mir nicht, dass du das alles vergessen hast.«
    »Nein«, murmelte Lenz. Er verließ den unbequemen Stuhl und streckte sich auf dem weichen Teppich neben Annelies Bett aus, war wieder ein Kind. »Erzähl weiter. Wenn du es erzählst, ist es wie ein Märchen …«
    »Aber es ist ein trauriges Märchen«, sagte Annelie. »Denn der Sommer ging zu Ende, und Iris wusste, dass sie ebenfalls gehen würde. Sie würde fortgehen, ins Ausland, und nie wieder kommen. Es war irgendein Land in Afrika. Der Vater war irgendetwas in der Industrie, glaube ich. Iris wollte nicht gehen. Sie mochte den Friedhof so sehr wie du, er war wie ein Spielplatz für euch. Und dann sagte sie, wenn sie irgendwann stirbt, möchte sie dort begraben werden. Es war ein kindlicher Satz, nur so dahingesagt; ich habe es nicht gehört, aber ein paar von den Leuten im Dorf, die schon. Sie haben den Satz nicht vergessen. Und dann kam der Tag, an dem sie nach Berlin zurückfuhren.«
    Lenz nickte. Und auf einmal sah er wieder vor sich, wie Iris in das Auto stieg. Das Auto war ein schwarzer Wartburg, und Iris trug wieder

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