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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zweifelnd, dann nahm er die Jacke und legte sie um ihre Schultern. Und dann begann er, langsam, sich aus seinen verdreckten Kleidern zu schälen.
    Wir könnten auch einfach nach Hause gehen, dachte Siri, wir waren beim letzten Mal genauso nass, und wir sind in den nassen Kleidern nach Hause gegangen … andererseits …
    Sie rubbelte ihre Haut mit der grauen fleckigen Jacke ab, bis es wehtat, um warm zu werden, gab die Jacke Lenz zurück und sah zu, wie er sich ebenfalls abtrocknete.
    Es war seltsam, ihn nackt vor sich zu sehen, im roten Abendlicht. Ohne die graue Arbeitskleidung, ohne die erdigen Stiefel, ohne all die Dinge, die ihn zum Totengräber machten wie eine Uniform. So war er nur ein Mann. Sehr groß, natürlich.
    Sie sah in sein Gesicht und versuchte, die Hässlichkeit darin wiederzufinden, die groben Züge, die sie zu Anfang gesehen hatte. Sie fand sie nicht. Sie fand ein Gesicht, das sie inzwischen kannte, das Gesicht eines Menschen, der schwarze Kaninchen rettete und nicht zugeben konnte, dass er einmal eine Frau geliebt hatte, die zwanzig Jahre älter gewesen war als er. Das Gesicht eines Menschen, der nicht mehr jung war und trotzdem ein Kind, der nicht war wie andere Menschen, der einfacher war als andere Menschen und trotzdem klug: auf allen Ebenen ein Paradoxon.
    Die grauen Augen des Paradoxons musterten sie so, wie sie ihn musterte. Nein, noch genauer. Von Kopf bis Fuß.
    Und auch er, der Mensch, das Kind, der Mann … hatte nicht nur ein Gesicht.
    Siri trat einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus.
    Lenz ließ die Jacke fallen.
    Sie legte die Hand auf seine Brust und ließ sie abwärtsgleiten, und auf einmal war ihr warm. Der nasse geblümte Regenmantel lag ganz nah, lag direkt zu ihren Füßen.
    Du kannst das tun, sagte sie sich, du kannst das tun, du kannst das tun. Es ist notwendig.
    »Was ist mit dem Telefon?«, fragte er heiser. »Dem roten Telefon?«
    »Was soll damit sein?«, sagte Siri. »Es gehört Frau Hartwig.«
    »Aber …«
    Sie trat noch einen Schritt näher. Und ihre Hand lag jetzt genau zwischen ihnen, genau im Zentrum. Die Welt drehte sich leicht, behutsam, dann schneller – einen Moment lang war es, als könnte Siri sie von außen sehen, aus der Vogelperspektive, aus der Perspektive der weißen Tauben: zwei nackte Menschen in der Abenddämmerung auf irgendeinem gottverlassenen Feld. Es war völlig klar, was jetzt geschehen musste. Sie schloss ihre Finger um die Mitte dieser Zwei-Personen-Welt, eine trotz der Kälte durchaus erektile Mitte.
    »Aber«, sagte er noch einmal. »Siri. Du hast einen Mann. Irgendwo … in Berlin. Du trägst seinen Schal …«
    »Sch, sch. Ja. Das stimmt. Aber man kann das hier tun, ohne dass es mehr bedeutet als … als das, was es ist. Und andere Leute müssen nichts davon wissen, oder?«
    »Aber«, sagte er ein drittes Mal. Es war nur noch ein sehr leises Aber.
    »Ich nehme die Pille. Du musst keine Angst haben, dass …«
    »Davor habe ich keine Angst«, sagte Lenz und lachte. Sein Lachen war ein wenig unsicher.
    Und jetzt, dachte sie. Jetzt bist du dran. Jetzt ziehst du mich hinunter auf die Wiese und tust, was auch immer du möchtest, wie auch immer du es möchtest, tu es einfach.
    Er tat nichts. Sie war es, die ihn hinunterzog, auf alle viere, aber auf dem Boden wurde nichts klarer. Ich kann das nicht, dachte sie, ich bin nicht der Typ Frau, der führt … und du bist so viel größer und stärker als ich …
    »Mit Carla«, flüsterte sie, »wie war es mit Carla?«
    »Carla hat nichts damit zu tun«, flüsterte er zurück.
    Und dann lag sie unter ihm, spreizte die Beine und klammerte sich an den großen, atmenden Körper über ihr, sie fror jetzt wieder. Sie wollte nichts sagen müssen, nicht einmal »Ich friere«.
    Lenz versuchte, sie zu küssen, aber sie wollte auch nicht geküsst werden, nicht in diesem Moment, sie wollte, dass er tat, was getan werden musste, sie versuchte, ihn mit ihrer Hüfte zu lenken, aber es funktionierte nicht.
    Verdammt, es funktionierte nicht.
    Alles war richtig, alles hätte funktionieren sollen.
    »Ich … ich habe Angst«, flüsterte Lenz. »Ich will dir nicht wehtun.«
    »Ich werd’s überleben«, flüsterte sie zurück und versuchte, zu lachen. »Bitte – wer weiß, ob wir ewig hier alleine sind – mach einfach.«
    »Ich kann das nicht!« Er klang jetzt verzweifelt. »Bitte, Siri, ich …«
    Sie ließ ihre Hand wieder nach unten wandern, aber es war nicht einfach, einen Weg zwischen

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