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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hier oben sieht man viel mehr!«, rief sie zu Lenz hinunter, und einen Moment später stand er neben ihr.
    »Ich weiß«, erwiderte er. »Ich gehe selten auf den Wegen.«
    »Lass uns rennen«, sagte Siri. Sie rannte voraus, über ein riesiges kohlgrünes Feld; die Erde blieb in großen, schweren Klumpen an ihren Schuhen kleben, doch Siri fühlte sich noch immer leicht, sie flog, und ihr offener Regenmantel war wie ein Gewand aus Schwingen. Die Wunde tat jetzt wieder weh, sie spürte, dass sie aufgegangen war und suppte. Es war egal. Als sie sich umdrehte, sah sie Lenz hinter ihr laufen, er hätte sie leicht überholen können, aber er war es gewohnt, mit jemandem über die Felder zu laufen, der kürzere Beine hatte als er. Ein Regenmantelvogel und ein grauer Vogel flogen über das Feld, weniger schön als die weißen Tauben, aber auch weniger kitschig. Am höchsten Punkt des unendlichen Feldes stand ein Strommast, und erst dort hielt Siri an.
    Man konnte das Meer sehen von hier und die Stromleitungen, die den Himmel zerschnitten, als wäre er Buntglas.
    Siri lehnte sich keuchend an den Fuß des Strommastes, und Lenz holte sie ein und lehnte sich ebenfalls daran. »Wir könnten weitertrinken«, sagte er, als er wieder zu Atem kam, und holte eine Flasche aus der Tasche seiner Jacke. Eine kleine, schmale Flasche, die eine klare Flüssigkeit enthielt.
    »Ich dachte, Winfried braucht diese Flasche nicht«, sagte Lenz. »Sie stand im Küchenschrank.«
    Siri schüttelte den Kopf, ertappte sich bei einem Grinsen und dachte: Ich bin wieder jung. Sechzehn vielleicht, höchstens achtzehn. In dem Alter, in dem man Schnaps aus dem Schrank seiner Eltern klaut.
    »Von mir aus«, sagte sie. »Jetzt ist es auch schon egal. Heute kriege ich nichts mehr zustande. Mit den Fenstern. Und der Alkohol betäubt das verdammte Bein.«
    Lenz reichte ihr die Flasche, und sie trank, und was sie trank, war scheußlich, irgendwelcher Kornbrand. Sie schüttelte sich, und er trank und schüttelte sich ebenfalls.
    »Verstehst du, warum man das trinkt?«, fragte Siri.
    »Ja«, sagte Lenz. »Es macht auf die Dauer blind.«
    »Und warum möchte man blind sein? Guck dich doch um! Es ist schön hier. Das Meer dahinten … und der Himmel und die Felder …«
    »Mach die Augen zu«, sagte Lenz. »Wenn du blind bist, kannst du noch viel mehr sehen. Alles, was du willst. Die Wüste. Afrika. Die Südsee. Aber die Häuser im Dorf und die Saatkartoffelleute, die brauchst du nicht zu sehen. Winfried hat Glück.«
    Siri öffnete die Augen wieder. »Ich glaube, ich sehe lieber das, was da ist. Und wenn es nur ein Kohlfeld ist.«
    Sie tranken weiter aus der Flasche, während sie den sanft abfallenden Hang auf der anderen Seite der Stromleitung hinunterwanderten. Siri humpelte. Er sagte nichts dazu. Sie sprachen kaum, sie tranken und wanderten und wanderten und tranken, und jeder von ihnen dachte seine Gedanken. Und es war gar nicht schlecht, so nebeneinanderher zu wandern, ohne sich in die Quere zu kommen. Wenn Jesus über das Wasser geht, zum Boot seiner Jünger, im Sturm, vielleicht sollte er nicht alleine gehen. Vielleicht sollte er, auf dem Kirchenfenster, noch jemanden bei sich haben, der neben ihm hergeht, um mit ihm zu schweigen.
    Irgendwann kamen sie an einen Graben, einen der vielen Entwässerungsgräben, die das Land durchzogen, bewachsen mit Schilf und erst aus der Nähe zu bemerken. Siri setzte sich auf die Böschung und sah der Dämmerung zu, die über das Land sank, transparent violett an den Rändern. Lenz setzte sich neben sie. Die Luft war noch immer lau. Die Flasche war leer.
    »Erzähl mir«, bat sie. »Erzähl mir von Carla Berg.«
    »Carla.« Er zögerte. »Es ist lange her. Über zwanzig Jahre.«
    »Was hat sie hier gemacht?«
    »Das … das weiß eigentlich keiner, glaube ich. Sie war eines Tages da und blieb, und irgendwann wollte sie wieder gehen, nehme ich an … sie hat bei Frau Hartwig gewohnt wie du. Als ich sie zum ersten Mal sah, stand sie ganz vorne auf dem Steg und sah aufs Wasser hinaus. Sie hat sich umgedreht und mich angesehen, das weiß ich noch, auf eine seltsame Art. Wir haben angefangen, uns zu unterhalten … über alles Mögliche. Nur nicht über sie selbst. Sie hat eine Menge Fragen gestellt, so wie du. Ich weiß nicht, warum sie sich so für mich interessiert hat. Ich war achtzehn oder neunzehn … sie hat gesagt, sie würde mich mitnehmen. Wenn ich wollte.«
    »Wohin?«
    »Keine Ahnung. Raus. Weg aus dem Dorf. Sie

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