Friedhofskind (German Edition)
kam aus irgendeiner Stadt, Dresden, glaube ich, obwohl sie nicht so sprach. Niemand wusste, was sie mit mir wollte. Sie war die Einzige, die mich je gefragt hat, was ich tun will. Mit meinem Leben.«
»Was hast du geantwortet?«
Er zuckte die Schultern. »Dass ich es noch nicht weiß. Ich hatte nie darüber nachgedacht. Ich hatte nie daran gedacht, dass es möglich wäre, wegzugehen. Aus dem Dorf. Es war auch nicht möglich. Kurze Zeit später habe ich Winfried ersetzt. Und das Leben ging weiter wie immer.«
»Und … Carla Berg?«
»Ist ertrunken. Aber das weißt du schon, nehme ich an. Ein Badeunfall. Sie ist alleine rausgeschwommen.«
»Nachts?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Wir waren ein paarmal in der Dämmerung zusammen schwimmen, sie und ich … an dem Abend war ich nicht bei ihr. Vielleicht ist sie alleine in der Dämmerung schwimmen gegangen. Die Fischer haben sie am Morgen gefunden.«
»Gab es damals auch … einen Sturm? Wie bei … Iris?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich erinnere mich nicht, aber Winfried sagt, das Wasser war ruhig. Niemand weiß, warum sie ertrunken ist. Sie haben sie hier begraben, weil sie gesagt hatte, dass sie das wollte. Vorher. Nur so gesagt, ohne sich etwas dabei zu denken. Ihr Mann war da, Dr. Berg. Er hat nicht mit mir gesprochen. Er konnte nicht mit mir sprechen. Ich saß auf dem Dach der Kirche, mit Iris. Winfried hat Carla begraben. Danach hat er eine ganze Flasche Schnaps ausgetrunken, allein, und dann hatte er den ersten Schlaganfall. Seitdem bin ich der Totengräber.«
Siri ließ sich zurück ins Gras fallen.
»Hast du sie geliebt?«
»Carla?« Er dachte nach, ließ sich neben sie ins Gras fallen, und so lagen sie zusammen auf dem Rücken im Gras und sahen in den Himmel, der leise schwankte. »Nein. Sie war interessant, natürlich … sie war so viel älter als ich … sie war schön. Als wir das erste Mal zusammen schwimmen waren, in der Dämmerung, das weiß ich noch, da hat sie sich einfach ausgezogen und ist ins Wasser gesprungen. Sie war die erste Frau, die ich nackt gesehen habe.«
»Außer … Iris?«
»Iris ist keine Frau. Sie ist ein Kind.«
»Aber ihr habt … Carla und du …«
»Wir haben eine Menge Sachen getan zusammen.«
Siri wollte sich auf den Bauch drehen, aber sie kam auf der Böschung ins Rutschen, vielleicht lag es am Alkohol. Sekunden später landete sie unten zwischen den Schilfhalmen im Wasser. Und für Sekunden spürte sie Panik in sich aufsteigen. Sie dachte an Iris, die sie im Schilf gefunden hatten, ein verheddertes gestrandetes Vögelchen. Sie dachte an Aljoschas aufgedunsenen Körper zwischen den Halmen …
Aber der Graben war nicht tief, das Wasser reichte ihr nur bis zur Hüfte, und auf einmal musste sie über sich selber lachen – über ihre schlammverschmierten, mit Entengrütze verzierten Jeans und die Vorstellung, was für ein dummes Gesicht sie vermutlich machte. Auch der Graben schwankte leicht.
»Komm!«, rief sie. »Es ist schön hier unten! Schön schlammig!«
Dann ließ sie sich rückwärts ins Wasser fallen, noch immer lachend. Es war sowieso schon egal. Lenz schüttelte den Kopf. »Du bist ja verrückt«, sagte er.
»Nein«, antwortete Siri aus dem Graben. »Nur betrunken.«
Da zog er die Jacke aus, rutschte die Böschung hinunter und landete neben ihr im Graben. Und einen Moment lang wurde Siri ein Kind. Sie war sechs Jahre alt, so alt wie Iris, als sie starb, sie spritzte das andere Kind im Graben mit beiden Armen nass, bekam Entengrütze in den Mund, spuckte sie aus und konnte nicht aufhören, zu lachen. Sie tauchte das andere Kind unter. Sie ließ sich untertauchen. Sie vergaß Carla und Iris und Aljoscha. Sie war so schlammig wie noch nie, sie tauchte und holte den Schlamm herauf und warf damit, und das Wasser war beinahe warm, und es war beinahe Sommer. Schließlich krabbelten sie ans Ufer, zwei dreckige Kinder, zitternd, so warm war es doch nicht. Die Sonne ging unter; ein zerquetschter roter Ball im Westen über dem Land, aus dem die Farbe auslief wie der Saft einer Blutorange und den Himmel schlierig färbte.
Siri streifte ihre nassen Kleider ab. Carla Berg war nackt vom Steg gesprungen. Und?
»Wir haben nur ein einziges trockenes Kleidungsstück«, sagte sie, bibbernd jetzt. »Deine Jacke. Wir könnten sie als Handtuch benützen. Besser, man wird das nasse Zeug los.«
Lenz war neben ihr aus dem Graben geklettert. Sein Gesicht war schlammverschmiert. Er sah sie einen Moment an,
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