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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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streifte, war feucht. Feucht vor Tränen.
    »Also, wenn es dich irgendwie interessiert … sie ist da draußen«, flüsterte sie.
    »Wie? Wo?« Einen Moment glaubte er wirklich, Siri stünde vor der Haustür, sie wäre gekommen, um irgendetwas zu ihm zu sagen, etwas Freundliches. Um ihn erklären zu lassen.
    »Sie ist in Richtung Wasser gegangen«, sagte Iris und wischte die Tränen fort. »Ich denke, sie wird den Weg gehen, den sie immer geht. An der Steilküste lang.«
    Er setzte Iris ab, behutsam, aber mit Nachdruck. »Ich werde nachsehen, ob ich sie finde«, flüsterte er. »Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte mit ihr reden. Du und ich, wir sehen uns später. Ich komme zurück, spätestens um sieben, wenn Winfried gewöhnlich aufwacht. Lass mich Siri alleine finden.«
    Damit ließ er sie stehen und betrat die schmale, dustere Stiege. Als er sich umsah, stand sie noch immer mitten in der winzigen, dunklen Schlafkammer. Sie stand in dem einzigen Lichtstrahl, der durch das kleine, staubige Fenster fiel – stand da in ihrem blauen Kleid und hatte eine Hand ausgestreckt, als wollte sie ihn noch halten. Sie sah so einsam aus, so verlassen, dass es ihm das Herz brach.
    »Ich komme zurück«, wiederholte er.
    Der Morgen war in Dunst getaucht, die Konturen der Bäume und Hügel ungewiss. Das Land lag verborgen unter weißen Nebeln. Verborgen, dachte Lenz, wie die Wahrheit – die Wahrheit über alles. Über Siri Pechten. Über Iris Weiß. Über Carla Berg. Über Jens und Lotte Fuhrmann. Und über das Friedhofskind. Hier wanderte es, das Kind, das sie alle verlassen hatten, hier wanderte es ganz alleine durch die Nebel, zwei Meter groß und einundvierzig Jahre alt.
    Und keiner wusste, was es getan hatte.
    Der Hafen war leer, die drei Fischerboote lagen stumm am Steg vertäut. Lenz schlug den Weg ein, der an den Datschen vorbeiführte, aufwärts, immer aufwärts, und schließlich oben an der Steilküste entlang. Der Nebel verbarg auch die grünen Hecken der Feriensiedlung, verbarg die silbrigen Blätter des Sanddorns, verbarg die Kiefern oben am Hang, unter denen irgendwo vielleicht winzige rote Walderdbeeren wuchsen, die man als Dekoration für Kuchen verwenden konnte. Sie waren dicht, die Nebel, dicht wie Suppe.
    Er befand sich noch auf dem schmalen Stück Weg, das zwischen dem Sanddorn hinaufführte, als er die Gestalt vor sich sah. Zuerst dachte er, es wäre Siri. Er glaubte, die Blumen auf ihrem Mantel zu sehen, ihr kurzes Haar, ihre Turnschuhe. Doch dann war er sich nicht mehr sicher; die Gestalt erschien ihm zu plump, und vielleicht war das, was er zuerst für kurzes Haar gehalten hatte, eine braune Mütze. Die Person verschwand hinter einem Busch, tauchte wieder auf, verschwand abermals und blieb verschwunden. Er stieg schneller.
    »Siri?«, rief er. Doch niemand antwortete ihm. Jetzt, jetzt hatte er den Weg dort oben erreicht, den Weg vorn an der Abbruchkante. Er fuhr mit der Hand das Geländer entlang und tastete sich durch den Nebel, halb blind. War es so für Winfried?
    Er rief noch einmal, doch der Nebel dämpfte seine Stimme, dämpfte seine Schritte und auch die der Person vor ihm. Vielleicht hatte er sich diese Person nur eingebildet; vielleicht hatte Siri einen ganz anderen Weg eingeschlagen, vielleicht saß sie auch längst wieder in Frau Hartwigs Ferienwohnung und aß zum Frühstück eine Tafel schwarze Schokolade. Falls sie noch welche hatte. Er merkte, dass er lächelte, als er das dachte.
    »Ich möchte in einer Welt leben«, hörte er sich flüstern, »in der es niemanden gibt außer dir und mir und einem Laden, in dem ich schwarze Schokolade kaufen kann, um sie dir mitzubringen. Es wäre eine Welt ohne Meer, ohne Ruderboote und gänzlich ohne Menschen – bis auf uns. Es gäbe auch keine Schneestürme in dieser Welt, keine Kinderwagen. Vermutlich keine Grabsteine. Keine Pflanzen und keine Mauern, an denen Pflanzen entlangwachsen. Sie wäre ein wenig kahl, diese Welt …«
    Er wanderte lange durch den Frühnebel, so lange, bis er die Sonne eidotterfarben am Horizont heraufglühen sah, so lange, bis der Nebel sich schließlich auflöste und den Kiefernwald freigab. Wirklich, es gab wilde Erdbeeren hier. Er kniete sich ins Moos. Die Erdbeeren waren dunkelrot und kaum so groß wie der Nagel seines kleinen Fingers; man musste unendlich behutsam sein, um sie nicht zu zerquetschen. Er hatte keine Probleme mit dem Behutsamsein, es war vielleicht das Einzige, dachte er, was er konnte. Er

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