Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
machte Kaminski einen Satz und schnappte sich das Kaninchen. Er hielt es am Nackenfell hoch, und jetzt sahen alle am Tisch zu ihm. Sie lachten. Das Kaninchen strampelte.
    »Dein Besitzer ist tot«, sagte Kaminski. »Ja, guck nur, dumm gucken kannst du ja.«
    »Kann ich es mal haben?«, rief das kleine Mädchen, das mit ihrem Bruder von unter dem Tisch aufgetaucht war.
    »Nein«, sagte Kaminski. »Dieses nicht. Dieses habe ich. Das wird ein Abendessen.«
    Und dann griffen seine Finger auf andere Weise ins schwarze Fell, so, dass er dem Kaninchen den Hals besser umdrehen konnte.
    Siri legte die Hände vors Gesicht. Es ist nur ein Kaninchen, sagte sie sich, Kaninchen sind dazu da, getötet und gegessen zu werden, es hatte ein schönes Leben, es hat einen schnellen Tod – sie wollte trotzdem nicht zusehen. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Kaminski mit leeren Händen da. Das Kaninchen hatte den Besitzer gewechselt. Es war jetzt Lenz, der es am Nackenfell hielt, er stand neben Kaminski. Das Kaninchen strampelte noch immer.
    »Das ist mein Kaninchen«, sagte Kaminski.
    »Hol dir ein anderes«, sagte Lenz, drehte sich um und ging.
    »Junge?«, rief Winfried. »Junge, gehst du? Warte! Was ist mit mir?«
    Siri sah Lenz stehen bleiben, mit dem Rücken zu ihnen, und hörte, wie er zwischen zusammengebissenen Zähnen fluchte. Dann kam er zurück, packte Winfried am Arm und zog ihn von seinem Stuhl hoch.
    Siri stand ebenfalls auf. Sie merkte, dass sie etwas wackelig auf den Beinen war. Aber bis zu Winfried und Lenz waren es nur ein paar Schritte. Sie streckte die Hand aus, und Lenz verstand.
    Einen Moment lang schien er mit sich zu ringen. Dann sagte er: »Nimm das Kaninchen.«
    Dieser Satz, dachte Siri, fasste so ungefähr alles zusammen: alles, was sie tun konnte, um Lenz zu helfen, und all ihre Grenzen. Nimm das Kaninchen.
    Das warme schwarze Leben in ihren Händen war weich wie eine Erinnerung an Sonnenschein. Es hatte jetzt aufgehört, sich zu wehren, doch sie fühlte sein kleines Herz rasen. Lenz legte sich Winfrieds Arm über die Schultern, und so verließen sie den Friedhof. Siri drehte sich nicht um.
    Sie konnte auch so hören, was die skurrile Sommergesellschaft hinter ihnen zueinander sagte.
    »Man sollte ihr sagen, wie unvernünftig sie ist!«, sagte Frau Hartwig.
    »Man sollte sie zurückholen«, sagte Frau Henning. »Das arme Mädchen weiß ja nichts.«
    »Sie weiß schon«, sagte Kaminski grimmig.
    »Lasst sie gehen«, sagte Werter.
    Sie ließen das Kaninchen hinter dem Haus der Fuhrmanns frei, und Lenz scheuchte es davon.
    »Warum tust du das?«, fragte Siri eine halbe Stunde später, als Lenz Winfried zur Toilette gebracht und ihn danach der Obhut des Fernsehers übergeben hatte. »Warum rettest du Kaninchen?«
    »Warum stehst du in unserer Küche?«
    Siri sah sich um. Sah den Tisch mit den Kerben an, die ein Friedhof waren, das verwitterte Holz der Möbel, die Dunkelheit. »Weil ich sie so schön finde«, antwortete sie.
    Dumme Frage. Weil ich auf dich warte.
    Er schob sie zur Tür hinaus, ins Licht.
    »Ich verstehe dich nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Du hast mir zum zweiten Mal geholfen, und manchmal lässt du dir helfen, und dann steigst du zu Kaminski ins Auto und trinkst mit den Leuten. Was willst du? Auf welcher Seite willst du sein?«
    Sie zuckte die Schultern.
    »Wir könnten ein Stück gehen. Ich merke die Wunde am Bein fast nicht mehr.«
    »Schön. Gehen wir ein Stück. Wie damals. Als Winfried in die Kirche kam. Da sind wir auch ein Stück gegangen. Was nützt es, zu gehen?«
    »Nichts«, sagte sie. »Komm.«
    Sie gingen den gewöhnlichen Weg, durch das gewellte Land mit seinen Feldern und Entwässerungsgräben, mit seinen Alleen aus rauschenden Pappeln und Linden und seinem weiten Horizont. Einmal sah Siri die weißen Tauben durch den blauen Himmel fliegen, ein rauschender Himmelsbogen aus hellen Federn, der schon wieder vorüber war, sobald man ihn bemerkt hatte. Kaminskis Tauben.
    »Ich bin betrunken«, sagte Siri.
    »Das war ihr Ziel.«
    Sie blieb stehen und sah sich um. »Es ist eigentlich gar nicht so schlecht, betrunken zu sein«, sagte sie. »Man wird … ich weiß nicht … leichter. Neulich habe ich gedacht, dass ich gerne einmal die Kontrolle verlieren würde, unsinnig sein … wir könnten einfach den Weg verlassen … quer über die Felder gehen …« Der Weg schnitt hier tief ins Wellenland ein, und sie war mit ein paar Schritten oben auf der Böschung. »Von

Weitere Kostenlose Bücher